Leitlinie zu chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen: Schmerzmittel nicht dauerhaft und nur unterstützend
Chronische, nicht tumorbedingte Schmerzen (CNTS) treten häufig auf. Im hausärztlichen Bereich wird die Häufigkeit auf etwa 20 % geschätzt. Vor allem Ältere sind davon betroffen – mehr als 75 % der Patienten sind über 50 Jahre alt.
Mit Abstand am häufigsten sind Rückenschmerzen (46 %), Knie- und Kopfschmerzen kommen ähnlich häufig vor (16 % bzw. 15 %). Bedingt sind die Schmerzen am häufigsten durch Arthrose und Bandscheibenvorfälle. Zusätzlich leiden viele Patienten mit chronischen Schmerzen an psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder somatoformen Störungen.
Als Grundlage für die Therapie nennt die S1-Leitlinie „Chronischer, nicht tumorbedingter Schmerz“ das biopsychosoziale Modell, bei dem biologische, psychologische und soziale Einflussfaktoren auf das Schmerzerleben berücksichtigt werden sollen, um die Behandlung bestmöglich individualisieren zu können.
Lassen sich behandelbare Ursachen für die chronischen Schmerzen erkennen, z. B. Grunderkrankungen wie Arthritis oder Migräne, sollen diese nach spezifischen Leitlinien therapiert werden.
Gut zu wissen: Welche Arten von Schmerzen gibt es?
Grob kann man zwischen primären und sekundären Schmerzsyndromen unterscheiden. Häufig treten jedoch auch Mischformen (mixed pain) aus beiden auf. Je nach Pathomechanismus lassen sich Schmerzen folgendermaßen feiner unterscheiden:
Primäre Schmerzsyndrome
- Noziplastische Schmerzen treten ohne nachweisbare Gewebeschädigung auf, dabei sind Nozizeptoren hypersensibilisiert – z. B. Fibromyalgie, primäre Kopfschmerzen, nichtspezifischer Rückenschmerz.
- Psychogene Schmerzen haben häufig Traumata oder entwicklungspsychologische Störungen als Ursache, beispielsweise somatoforme Schmerzstörung.
Sekundäre Schmerzsyndrome
- Nozizeptive Schmerzen entstehen durch somatische oder viszerale Gewebeschädigungen, z. B. degenerative/rheumatische muskuloskelettale Erkrankungen, Endometriose, periphere arterielle Verschlusskrankheit.
- Neuropathische Schmerzen sind durch nachweisbare Nervenschädigungen bedingt, beispielsweise diabetische Polyneuropathie, Neuralgien wie Post-Zoster-Syndrom.
Nichtmedikamentöse Maßnahmen bei chronischen Schmerzen
Als Basis der nichtmedikamentösen Therapie chronischer, nicht tumorbedingter Schmerzen gilt eine gesteigerte körperliche Aktivität. Damit erleben laut den Leitlinienautoren zwei von drei Patienten bereits eine Schmerzreduktion. Konkrete Empfehlungen zu bestimmten Aktivitäten gibt es nicht. Die Patienten sollten Freude daran haben und sie in den Alltag einbauen können.
Daneben sollten proaktiv risikoarme nichtmedikamentöse Maßnahmen empfohlen werden. Dazu zählen Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation sowie die äußere Anwendungen von Wärme, Kälte oder Hausmitteln, z. B. Quarkwickel bei entzündlichen Gelenkschmerzen.
Als nichtmedikamentöse Verfahren mit unklarer oder widersprüchlicher Evidenz werden beispielsweise transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Akupunktur, manuelle Therapie oder Nahrungsergänzungsmittel genannt. Individuell können sie in Abhängigkeit von der Grunderkrankung erwogen werden.
Psychotherapeutische Behandlungen – konkret kognitive Verhaltenstherapie und achtsamkeitsbasiertes Stressbewältigungstraining – helfen 30 % bis 60 % der Schmerzpatienten.
Individuelle, realistische Interventionen und Therapieziele, z. B. Schmerzreduktion um 30 % oder besserer Schlaf, sollten mit den Patienten vereinbart und schriftlich festgehalten werden.
Schmerzmittel nur unterstützend und nicht auf Dauer
Es wird angenommen, dass eine medikamentöse Schmerztherapie nur etwa 30 % der Patienten mit chronischen Schmerzen hilft. Trotzdem werden Schmerzmittel häufig verordnet – etwa zwei Drittel der Patienten erhalten sie.
Es zeichnet sich der Trend ab, dass hierzulande vermehrt auch Opioide eingesetzt werden, obwohl sie bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen eher gering wirken. Weiterhin wird geschätzt, dass etwa die Hälfte der Patienten mit chronischen Schmerzen nicht verschreibungspflichtige Analgetika anwendet.
Bevor ein Schmerzmittel verordnet wird, sollte der Zeitrahmen für den Therapieversuch sowie folgende Reduktions- oder Auslassversuche besprochen werden. Werden vereinbarte Therapieziele nicht erreicht, sollte die medikamentöse Behandlung rasch abgebrochen werden.
Zudem sollte kommuniziert werden, dass eine medikamentöse Therapie nur unterstützend eingesetzt wird und als Überbrückung dient, bis nichtmedikamentöse Maßnahmen wirken. Eine Dauertherapie mit Analgetika gilt es zu vermeiden.
Um den Therapieerfolg zu prüfen, wird ein Monitoring zwei bis sechs Wochen nach Neuverordnung eines Schmerzmittels und erneut nach drei bis sechs Monaten empfohlen.
Schmerzmittel anhand des Stufenschemas der WHO auswählen
In der medikamentösen Schmerztherapie orientiert man sich seit vielen Jahren an dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In letzter Zeit wird infrage gestellt, ob das für Tumorschmerzen entwickelte Konzept auf nichttumorbedingte Schmerzen übertragbar ist.
Außer Frage steht jedoch, dass eine medikamentöse Schmerztherapie mit Nichtopioid-Analgetika begonnen werden sollte. In tabellarischer Form nennt die Leitlinie gängige Schmerzmittel sowie Anwendungshinweise und Kontraindikationen:
- Bei Paracetamol findet sich etwa der Hinweis, dass keine Kombinationspräparate eingesetzt werden sollten.
- Metamizol wird als Reservemittel genannt.
- Bei einigen Wirkstoffen findet sich die Information, dass diese bei älteren Patienten potenziell inadäquat sind, darunter nichtsteroidale Antirheumatika wie Diclofenac sowie Coxibe und Opioide wie Tramadol.
Opioide sollten nur bei Kontraindikationen gegen Nicht-Opioide oder bei unzureichender Wirkung alternativ oder zusätzlich zu Nichtopioid-Analgetika angewendet werden. Dabei gilt, dass nur retardierte Präparate eingesetzt werden sollen (Ausnahme: Einstellungsphase) sowie bevorzugt solche zur oralen Anwendung.
Bei einer Opioid-Therapie soll ein Auslassversuch nach drei Monaten unternommen werden, wenn kein Ansprechen verzeichnet wird, und bei gutem Ansprechen nach spätestens sechs Monaten.
Welche Analgetika bei neuropathischen Schmerzen?
Die Leitlinienautoren erinnern daran, dass neuropathische Schmerzen weder ausreichend auf Nichtopioid-Analgetika noch auf Opioide ansprechen. In diesem Zusammenhang wird auf die Leitlinie „Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“ verwiesen.
In der Leitlinie werden als Mittel der ersten Wahl Gabapentinoide, tricyclische Antidepressiva und bei diabetischer Neuropathie Duloxetin benannt. Unter den Gabapentinoiden soll Gabapentin vorrangig eingesetzt werden, da es ein geringeres Suchtpotenzial als Pregabalin besitzt.
Bei umschriebenen, dermatombezogenen Schmerzen – z. B. bei der Post-Zoster-Neuralgie – können topisch Lidocain-Pflaster eingesetzt werden.
Mögliche Gefahr von Schmerzmittel-Missbrauch
Die Leitlinienautoren weisen auch auf abwendbare gefährliche Verläufe und typische Warnhinweise („red flags“) hin. So kann es vorkommen, dass eine behandelbare Schmerzursache übersehen wird, beispielsweise eine nicht behandelte rheumatische oder schwere psychische Erkrankung.
Eine Unterversorgung ist etwa bei kognitiv eingeschränkten Patienten möglich, die ihre Schmerzen nicht artikulieren können, z. B. bei einer Demenz. Hier können sich Schmerzen in Aggressivität oder Unruhe äußern.
Zudem besteht bei zahlreichen Schmerzmitteln die Gefahr des nicht bestimmungsgemäßen Gebrauchs. Als typische Beispiele werden chronische Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln sowie die Abhängigkeit von Gabapentinoiden oder Opioiden genannt.
Die Autoren erinnern zudem an das Risiko des Übergebrauchs nicht verschreibungspflichtiger Analgetika. Quelle:
Chronischer nicht tumorbedingter Schmerz. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM), AWMF-Registernummer 053 – 036, Stand: 30. November 2023