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Selbstverletzung: Ursache, Therapie und Prävention

Junges Mädchen hält sich den rechten verbundenen Arm
Für junge Menschen können Selbstverletzungen ein Vehikel im Umgang mit belastenden Emotionen sein. | Bild: M-Production / AdobeStock

Nichtsuizidale Selbstverletzung (NSSV) ist eine vorsätzliche, selbstgesteuerte Schädigung von Körpergewebe ohne Suizidabsicht. Betroffene machen es meistens heimlich und versuchen, ihre Wunden und Narben vor Angehörigen und Freunden zu verstecken. 

Zu den häufigsten Formen einer solchen Selbstverletzung zählen Schneiden, Ritzen, Kratzen, Schlagen, Kneifen, Beißen oder Verbrennen (zum Beispiel mit Zigaretten oder Deospray) der Haut an Armen, Handgelenken und Oberschenkeln. Zum Teil können die Verletzungen sehr schwer und lebensbedrohlich sein. 

Gut zu wissen: Wann ist Selbstverletzung suizidal?

Die Einordnung, ob das selbstverletzende Verhalten suizidal oder nicht suizidal ist, ist ausschließlich durch eine ausführliche psychologische Diagnostik unter Berücksichtigung zahlreicher Kriterien möglich. 

Das Beurteilen der Wunden, die Häufigkeit und die Schwere der Verletzung geben keinen Rückschluss darauf, ob der Betroffene suizidgefährdet ist oder nicht. 

Selbstverletzung: Jugendliche besonders betroffen

Studien geben eine Prävalenz von 17 bis 35 Prozent bei Jugendlichen an, die sich mindestens einmal absichtlich selbst verletzt haben. Die meisten Betroffenen sind zwischen 15 und 19 Jahre alt, dabei sind weibliche Jugendliche etwas häufiger betroffen als männliche. 

Weitere Studien weisen darauf hin, dass die Häufigkeit von NSSV mit steigendem Alter abnimmt und im Erwachsenenalter schätzungsweise nur noch bei etwa fünf  Prozent vorkommt.

Gut zu wissen: Selbstverletzendes Verhalten und psychische Störungen 

Selbstverletzendes Verhalten kann gemeinsam mit psychischen Störungen wie beispielsweise Borderline-Störung, posttraumatischen Erfahrungen oder Depression vorkommen. 

Es kann jedoch auch isoliert, ohne weitere Erkrankung auftreten. Auch wenn hinter dem Verhalten zunächst keine suizidalen Absichten stehen, birgt NSSV langfristige Risiken, einschließlich Depression und erhöhter Raten von Suizidversuchen und Selbstmorden

Positives Selbstbild und Selbstliebe als schützende Faktoren

Ein schlechtes Selbstbild, Neigung zu Perfektion und ein hoher Anspruch an sich selbst können ein selbstverletzendes Verhalten begünstigen. Als ein wesentlicher sozialer Einflussfaktor gelten Mobbing, soziale Phobie und eine schlechte Verarbeitung von sozialen Stressoren. 

Das NSSV kommt oft gehäuft in Freundeskreisen vor. Eine Person, die sich selbst verletzt, kennt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch andere Betroffene. Allerdings verletzen sich nur etwa fünf Prozent der Betroffenen aus Zugehörigkeitsgefühl oder um Nähe zu einer anderen Person herzustellen, wie Befragungen zeigen.

Selbstverletzung als Ausdruck von psychischem Schmerz

Gründe, die zu selbstverletzendem Verhalten motivieren, sind emotionaler Natur. Betroffene wollen auf diese Weise unter anderem ihre empfundenen Emotionen regulieren und eine psychische Anspannung lösen. 

Manche geben an, sich selbst zu bestrafen, oder aber erhoffen sich, von anderen wahrgenommen zu werden. Das Verhalten kann daher auch eine Art Kommunikation mit dem eigenen sozialen Umfeld sein.

Dennoch ist die Annahme falsch, dass sich Jugendliche grundsätzlich verletzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Selbstverletzung durch soziale Ansteckung im Internet

Soziale Netzwerke tragen sehr viel dazu bei, NSSV als eine Möglichkeit, negative Emotionen zu regulieren, bekannt zu machen. Dort versuchen Betroffene, ihr Leiden häufig anonym zu offenbaren, und erhoffen sich, von anderen verstanden zu werden. 

Dadurch baut sich allerdings ein Netzwerk auf, indem sich zum einen Betroffene gegenseitig aufbauen und zu Selbstverletzung motivieren. Zum anderen werden dadurch weitere junge Menschen mit dieser Störung konfrontiert. Das führt dazu, dass viele dieses Verhalten als eine Möglichkeit entdecken, mit dem eigenen psychischen Schmerz auf diese Weise umzugehen. 

Gut zu wissen: Selbstschädigendes Verhalten hat viele Facetten 

NSSV ist abzugrenzen von anderem selbstschädigenden Verhalten wie Drogen- oder Alkoholkonsum, Skin Picking, gefährliches Verhalten wie schnelles Autofahren, riskante sexuelle Kontakte, kulturell akzeptierte Verletzung wie Piercings und Verletzung aufgrund von religiösen oder kulturellen Ritualen wie Beschneidung. Die Übergänge sind jedoch fließend und die Einordnung vieler Störungsbilder nicht immer eindeutig.

Empfinden Personen, die sich selbst verletzen, keinen Schmerz?

Ein gesunder Mensch strebt danach, körperliche Schmerzen möglichst zu vermeiden. Früher wurde angenommen, dass Betroffene während des selbst zugefügten „Eingriffs“ keine Schmerzen verspüren, also eine Analgesie erleben. 

Psychologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist – Betroffene spüren durchaus den Schmerz, allerdings scheint dieser bei ihnen geringer ausgeprägt zu sein. 

Demnach scheint die Schmerz-Barriere bei Personen mit NSSV verringert zu sein. Das betrifft sowohl die Schmerzschwelle und die Schmerztoleranz als auch die Schmerzdauer. Die Ursache für dieses andere Schmerzempfinden ist allerdings nicht geklärt. 

Möglicherweise ist es weniger ein biologisches Geschehen, sondern mehr der Bewertungsprozess, warum sie den empfundenen Schmerz als weniger schlimm wahrnehmen. 

Gewöhnungseffekt erleichtert Selbstverletzungen

Viele Menschen können kein Blut sehen und reagieren bereits bei kleinen blutenden Wunden mit Abneigung oder sogar Ekel. Auch das Hantieren mit scharfen Gegenständen wie Glasscherben, Klingen oder Skalpell ist vielen Menschen unangenehm und versetzt sie in psychischen Stress.  

Während viele Betroffene von NSSV das erste Mal ebenfalls als schwierig beschreiben, wird mit der Zeit die Hemmschwelle, sich eine Wunde zuzufügen, herabgesetzt. Ein weiterer wichtiger Aspekt, warum dieses Verhalten wiederholt auftritt, ist daher ein Gewöhnungseffekt. 

In diesem Fall können auch schon Bilder mit Wunden, die in den sozialen Netzwerken durch andere Betroffene gepostet werden, zum Gewöhnungseffekt beitragen.

Soziales Umfeld kann Selbstverletzung beeinflussen

Die Reaktionen des Umfelds – Freunde, Familie oder Außenstehende – können das Verhalten sowohl verstärken als auch abschwächen. Je nach Art der Unterstützung können daher andere Menschen durch Trösten, Mitleid oder eine stärkere Zuwendung und gemeinsame ablenkende Aktivitäten das Verhalten bei Betroffenen auch verstärken. Insbesondere dann, wenn die Zuwendung, die der betroffenen Person geschenkt wird, nur kurzfristig erfolgt. Die Gefahr, dass die Betroffenen wiederholt in ein selbstverletzendes Verhalten flüchten, um die Aufmerksamkeit wiederzuerlangen, ist groß.  

Außenstehende können das schädigende Verhalten aber auch abschwächen, indem sie gemeinsam mit dem Betroffenen Auslöser für NSSV ausfindig machen, Konflikte und Probleme lösen und ihnen dabei helfen, professionelle Hilfe zu suchen. 

Eine positive Zuwendung und Aufmerksamkeit von Nahestehenden sollte nicht nur nach Selbstverletzungen, sondern auch zu anderen Zeitpunkten gegeben sein.  

Beratungstipp: Was tun, wenn selbst zugefügte Wunden bei Patienten zu sehen sind?

Es ist möglich, dass Betroffene in der Apotheke Verbandsmaterial besorgen oder dass sogar ihre Wunden und Narben unbeabsichtigt zum Vorschein kommen.  

Dennoch: Ungebeten sollten keine Ratschläge gegeben werden, auch nicht in der Apotheke. Wenn ein Patient selbst offen über sein Leid spricht, sollte die Unterstützung in erster Linie darauf abzielen, psychotherapeutische Unterstützungsangebote aufzuzeigen. 

Im Rahmen eines kurzen Beratungsgesprächs in der Apotheke können keine tiefgreifenden psychischen Probleme diagnostiziert und gelöst werden. 

NSSV: Diagnose, Therapie und Behandlungsmöglichkeiten 

Selbstverletzung stellt potenziell eine akute Gefährdung für die Gesundheit und das Leben der Betroffenen dar. Der erste Ansprechpartner sollte daher der Hausarzt bzw. Kinder- & Jugendmediziner sein, der dann über die langfristige Weiterbehandlung entscheiden kann. 

Ambulante Psychotherapie gilt als Mittel der Wahl bei NSSV, typischerweise mit einer Therapiesitzung pro Woche für die Dauer von ein bis zwei Jahren. Hierbei wird am häufigsten die Verhaltenstherapie angewandt. Sie gilt als effektiv und nachhaltig.

Ein niederschwelliges Online-Angebot wie z. B. STAR bietet Betroffenen und Angehörigen umfangreiche Informationen zum Thema sowie Adressen mit Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen, wo Betroffene Hilfe finden können.

Stationäre Aufenthalte oder eine begleitende Medikation können allerdings ebenfalls bei NSSV-Patienten notwendig sein, insbesondere dann, wenn weitere psychische Auffälligkeiten und Krankheiten auftreten.  

Auch wenn NSSV vorwiegend bei jungen Menschen beobachtet wird und mit zunehmendem Alter abnimmt, ist eine rechtzeitige Behandlung sehr wichtig, damit Betroffene den gesunden Umgang mit Problemen, schlechten Emotionen und Stress erlernen. Quelle: Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten-Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie
Hepp, Schmahl, Stiglmayr 1. Auflage (2024) Hogrefe-Verlag