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THC: Nebenwirkungen einer Cannabis-Therapie

Cannabisblüten in einem Glas mit Schraubdeckel
Auch bei Medizinalcannabis müssen potenzielle Nebenwirkungen beachtet werden. | Bild: Xhico / AdobeStock

Die Wirksamkeit einer Therapie mit Medizinalcannabis ist bei einigen Indikationen gut belegt, z. B. bei chronischen Schmerzen, Spastik bei Multipler Sklerose sowie Erbrechen oder Kachexie bei Krebspatienten. 

Doch wo eine Wirkung zu erwarten ist, muss auch mit Nebenwirkungen gerechnet werden. So kann hochdosiertes Cannabidiol (CBD), der nichtpsychoaktive Inhaltsstoff, bei einigen Patienten zu einem Anstieg der Lebertransaminasen führen. Zudem beeinflusst CBD eine Reihe von CYP-Enzymen wie CYP3A4, CYP1A2 oder CYP2D6. 

Laut den Autoren einer Literaturrecherche können 53 in der EU zugelassene Wirkstoffe mit CBD interagieren, darunter Immunsuppressiva und Antiepileptika. Das ist nicht nur bei Cannabispatienten zu beachten, sondern auch bei Kunden, die CBD-haltige Nahrungsergänzungsmittel einnehmen

THC erzeugt Nebenwirkungen bei Cannabis-Therapie

Demgegenüber ist das Interaktionspotenzial von Tetrahydrocannabinol (THC) auf enzymatischer Ebene praktisch vernachlässigbar. Das psychoaktive THC prägt jedoch maßgeblich das Nebenwirkungsspektrum der Cannabis-Therapie. 

Akute Überdosierungen und schwere Organschäden sind im Gegensatz zu Opioiden oder nichtsteroidalen Antirheumatika nicht bekannt. Und bei einer oralen Dosis von bis zu 7,5 mg Tetrahydrocannabinol pro Tag sind bei normalgewichtigen Patienten praktisch keine Neben­wirkungen zu erwarten. 

Unerwünschte Arzneimittel­wirkungen (UAW) nehmen jedoch mit der THC-Dosis und der inhalativen Darreichungsform zu.

Cannabis: Viele Nebenwirkungen vorübergehend und vermeidbar

Wer Cannabis zu Genusszwecken konsumiert, sucht den euphorischen THC-Rausch, der oft mit Gedankenflucht und Appetitsteigerung einhergeht. Dies ist zum Teil therapeutisch erwünscht, stellt aber häufig eine unerwünschte Arzneimittelwirkung dar, welche die Patienten bei der Bewältigung ihres Alltags behindern kann.

Bei mehr als jedem zehnten Patienten tritt während der Cannabis-Therapie Müdigkeit auf. Mehr als einer von 100 Behandelten berichtet über Schwindel, Schläfrigkeit, Übelkeit, Mundtrockenheit, Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen, Gleichgewichtsstörungen, Lethargie oder Depressionen

Dies ergab die Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die 2017 im Gesetz „Cannabis als Medizin“ verankert wurde. Demnach sind Nebenwirkungen der Cannabis-Therapie häufig, aber nicht schwerwiegend, da sie nur selten zu Therapieabbrüchen führen. 

Die Häufigkeit der Nebenwirkungen unterscheidet sich nur geringfügig zwischen Cannabis-Blüten, Cannabis-Extrakten, Dronabinol und Sativex®. Viele der moderaten Nebenwirkungen sind vorübergehend und vermeidbar: Patienten, die noch keine Erfahrung mit Cannabis haben, sollten mit der niedrigsten Dosis beginnen und die THC-Menge langsam steigern, bis der gewünschte Therapieeffekt erreicht ist.

Der Bund Deutscher Cannabis-Patienten (BDCan) rät, auf Anfrage der Redaktion, sich zu Beginn der Therapie auf die akute Wirkung von Cannabis einzustellen, also ein bis drei Stunden nach der Einnahme. 

„Die erste Dosis sollte unter Aufsicht einer Vertrauensperson und abends eingenommen werden.“ Außerdem sei es hilfreich, Wasser und kalorien­arme, leicht verdauliche Snacks wie Rohkost mit Dip bereitzuhalten.

Cannabis nicht bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen konsumieren

Schwindel, Gleichgewichtsstörungen und Müdigkeit können für sturzgefährdete Patienten gefährlich werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn weitere Arzneimittel eingenommen werden, welche die Vigilanz (Wachheit bzw. Daueraufmerksamkeit eines Patienten) herabsetzen. 

Ähnliches gilt für die Fahrtüchtigkeit, weshalb Patienten während der Eingewöhnungsphase, nach einem Produktwechsel oder einer Dosissteigerung nicht am Straßenverkehr teilnehmen sollten. 

In der Begleiterhebung des BfArM berichteten 0,1 Prozent der Behandelten über Tachykardie, Hypotonie oder Dys­arthrie (Artikulationsstörung). THC kann bei Patienten zunächst den Blutdruck senken, was sich in einer Reflextachykardie äußert. Dies wird zu einem Risiko, wenn Patienten mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen hohe Dosen von THC inhalieren.

Daher sehen viele Ärzte schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen als relative Kontraindikation für eine Cannabis-Therapie ‒ so auch Kirsten Müller-Vahl. Die auf das Tourette-Syndrom spezialisierte Oberärztin an der Abteilung für Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover behandelt viele Patienten mit Cannabis. 

Sie rät Apotheken, bei multimorbiden Cannabis-Patienten eine Medikationsanalyse zu erwägen. Unter der Cannabis-Therapie kann zum Teil die Dosis der Begleitmedikation reduziert werden ‒ bei Schmerzpatienten betrifft dies vor allem Opioide. „Unter der Cannabis-Therapie kann der Blutdruck sinken, auch der Blutzuckerspiegel kann positiv beeinflusst werden“, so Müller-Vahl gegenüber der Redaktion.

Kein Cannabis bei familiärer Belastung durch Psychosen

Teilweise reagieren Menschen allergisch auf Pflanzen­inhaltsstoffe, was die Therapie mit Cannabis-Blüten ausschließen kann. Überempfindlichkeiten auf die Inhaltsstoffe von Extrakten oder gegenüber THC sind zwar selten, aber möglich. 

Zudem wurde in Beobachtungsstudien die Einnahme größerer Mengen Cannabis mit dem Risiko für Psychose-ähnliche Symptome in Verbindung gebracht. In der Begleituntersuchung des BfArM traten gelegentlich (bei ein bis zehn von 1.000 Patienten) Wahnvorstellungen auf, Sinnestäuschungen, Halluzinationen, Dissoziation oder Suizidgedanken. In der Regel verschwinden diese Symptome nach der akuten Wirkung – das BfArM rät dennoch, diese Sym­ptome ernst zu nehmen.

Autoren einer metaanalytischen Modellstudie errechneten eine Wahrscheinlichkeit von 0,5 Prozent, nach THC-Einnahme eine psychotische Episode zu erleiden. Bei Cannabis-Patienten war zwar die Wahrscheinlichkeit geringer, das kontrollierte Setting schloss das Risiko jedoch nicht aus.

Die Psychologin Müller-Vahl gibt zu bedenken, dass diese Signale nur schwer auf eine sachgerechte Cannabis-Therapie übertragbar sind. „Kein Cannabis-Patient bekommt aus heiterem Himmel eine Psychose“, sagt sie. 

Das Risiko sei bei Patienten erhöht, die eine familiäre Belastung durch Schizophrenien und Psychosen aufweisen. Eine akute Psychose stelle eine absolute Kontraindikation dar, sagt die Psychiaterin. 

Ein Zusammenhang zwischen Cannabis und einem erhöhten Risiko für chronische psychotische Störungen ist für Personen nachgewiesen, die ein hohes genetisches Risiko haben und bereits im Jugendalter regelmäßig große Mengen THC-haltiger Cannabis-Produkte inhalierten.

THC bei Cannabiskonsum-Störungen hilfreich

Viele Ärzte betrachten Suchterkrankungen als Kontraindikation für eine Cannabis-Therapie. Medizinalcannabis kann jedoch auch bei Patienten mit Cannabis- oder Opioidkonsum-Störungen im Rahmen eines Therapiekonzepts durch erfahrene Suchtmediziner erwogen werden. 

Die wiederholte Stimulation der CB1-Rezeptoren, dem pharmakologischen Ziel von THC, kann zu einer Toleranzentwicklung führen. Dies kann das Risiko einer unkontrollierten Dosissteigerung und von Entzugssymptomen nach dem Absetzen erhöhen ‒ ein Kriterium für Cannabiskonsum-Störungen und Abhängigkeit. 

Studien zeigen, dass etwa 22 Prozent der Personen, die Cannabis zu Freizeitzwecken konsumieren, zu einer Cannabiskonsum-Störung neigen. Auch Patienten sind davon betroffen, wenn auch seltener als im Freizeit­bereich. Entzugssymptome und Gewöhnungseffekte sind deutlich weniger stark als bei der Behandlung mit Opioiden oder Benzodiazepinen. 

Wann ist Cannabis kontraindiziert?

Zudem beeinflusst Cannabis die Hirnreifung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, wobei die genauen Zusammenhänge und klinischen Konsequenzen noch nicht vollständig erforscht sind. 

Während Cannabis bei schwer erkrankten Patienten, die zusätzlich unter Depressionen oder Angststörungen leiden, einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit haben kann, ist der Freizeitkonsum hoher Mengen Cannabis bei Jugend­lichen eher mit ungünstigen Auswirkungen auf psychische Begleiterkrankungen verbunden. 

Gesunden Jugend­lichen ist daher von einem regelmäßigen Cannabis-Konsum abzuraten. Bei schwer erkrankten Jugendlichen sollte eine Behandlung nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. 

Auch während Schwangerschaft und Stillzeit ist die Therapie nur bei eindeutigem Nutzen gerechtfertigt. THC passiert die Plazentaschranke und kann beim Stillen in die Muttermilch übergehen. Föten und Neugeborene können dadurch in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden.

Dauerkonsum von Cannabis kann zu schwerem Erbrechen führen

Eine weitere schwere, aber sehr seltene Nebenwirkung ist das Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom (CHS). Betroffene klagen über schwere Übelkeit und Erbrechen in regelmäßigen Episoden. Hitze scheint bei vielen Betroffenen die Symptome zu lindern, weshalb sie heiße Bäder oder Duschen nehmen. 

Dem CHS voraus geht ein jahrelanger Konsum von Cannabis-Produkten mit hohem THC-Anteil. Nur durch die konsequente Abstinenz von Cannabis-Produkten verschwinden die Symptome. Im schlimmsten Fall droht eine schwerwiegende Dehydrierung – acht Todesfälle wurden in den USA mit dem CHS in Verbindung gebracht. 

Möglicherweise kann sich ein Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom durch eine chronische Überstimulation der CB1-Rezeptoren bei einem kleinen Teil von Menschen entwickeln, die eine genetische Prädisposition tragen. 

Kirsten Müller-Vahl sagt, sie selbst habe das Phänomen noch bei keinem Patienten beobachtet, allerdings berichteten ihr Kollegen von Patienten mit CHS. „Man muss das Syndrom kennen“, sagt sie. Das BfArM schreibt auf Anfrage der Redaktion, dass der Behörde bislang kein gemeldeter Fall des Cannabinoid-Hyperemesis-Syndroms im Zusammenhang mit der Cannabis-Therapie vorliegt. Literatur
https://doi.org/10.1016/j.ejim.2023.07.029

Ziegler AS. Cannabis – Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2022

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 SGB V zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln, veröffentlicht am 6. Juli 2022

Gastmeier K et al. Cannabinoide reduzieren den Opioidverbrauch bei älteren Schmerzpatienten. Der Schmerz 2023, Ausgabe 1

https://doi.org/10.1038/s44220-024-00261-x

https://doi.org/10.1016/S2215-0366(23)00143-8

doi:10.1001/jamapsychiatry.2021.1258

doi:10.1001/jamapsychiatry.2020.1035

https://doi.org/10.1007/s00406-024-01880-2

Twohey M et al. As America’s Marijuana Use Grows, So Do the Harms. New York Times, Beitrag vom 4. Oktober 2024, www.nytimes.com

https://doi.org/10.3389/ftox.2024.1465728
 

Cannabis-Therapie: So lässt sich das Risiko von UAW minimieren

Das Risiko der seltenen, aber potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen lässt sich minimieren, wenn die orale Applikation Vorrang hat, insofern der schnelle Wirkeintritt bei der Inhalation therapeutisch nicht relevant ist. 

Darüber hinaus sollte die Indikationsstellung klar sein, Interak­tionen geprüft und harte oder weiche Kontraindikationen beachtet werden:

  • Überempfindlichkeit
  • fragile, multimorbide Patienten
  • schwere kardiovaskuläre Vorerkrankungen und unkontrollierter Blutdruck
  • Schwangerschaft und Stillzeit
  • Alter unter 18 Jahren, außer bei schweren Entwicklungsstörungen oder in palliativen Situationen
  • akute Psychose und familiäre Belastung mit psycho­tischen Störungen und Schizophrenie
  • bei CBD: schwere Leberfunktionsstörungen