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Antidepressiva ab­setzen: Wie oft treten Symptome auf?

Werden antidepressiv wirkende Arzneimittel abgesetzt, kann es zu Symptomen wie Kopfschmerzen oder Schwindel kommen. | Bild: Syda Productions / AdobeStock

Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Krankheiten. Jährlich erkranken etwa 8,2 %, d. h. 5,3 Millionen erwachsene Deutsche, an einer Depression – etwa jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland ist davon betroffen.  

Laut der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) sind entsprechende Arzneimittel und/oder Psychotherapie die beiden wichtigsten Behandlungssäulen bei einer Depression. Im „Deutschland-Barometer Depression“Repräsentative Umfrage von September 2022; befragt wurden etwa 5.050 Personen zwischen 18 und 69 Jahren   gaben rund 62 % der Betroffenen an, dass sie Antidepressiva einnehmen.  

Teils werden die Antidepressiva nur für eine kurze Zeit verordnet, andere Betroffene müssen die Arzneimittel allerdings über einen längeren Zeitraum einnehmen. Immer wieder fürchten sich Patienten jedoch vor dem Moment, wenn die Medikation abgesetzt werden soll. Warum?  

In zahlreichen Internetbeiträgen wird das Absetzen von Antidepressiva als problematisch dargestellt und viele Betroffene berichten von Beschwerden nach dem Absetzen der antidepressiv wirksamen Substanzen. Wie häufig solche Absetzsymptome tatsächlich vorkommen, haben Forschende der Charité Universitätsmedizin Berlin und der Uniklinik Köln genauer untersucht.

Gut zu wissen: Können Antidepressiva abhängig machen?

Nach formaler Definition machen Antidepressiva nicht abhängig. Anders als bei „echten“ Suchtmitteln (z. B. Cannabis, Opioide oder Alkohol) führt die Einnahme von antidepressiven Substanzen beispielsweise nicht dazu, dass der Körper für denselben Effekt eine immer höhere Dosis braucht. Nach Beendigung der Therapie kann es lediglich zu Absetzsymptomen wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen kommen.

Gemäß ICD-10 ist eine Abhängigkeit durch folgende Punkte gekennzeichnet:

  • Starker Wunsch, die Substanz einzunehmen.
  • Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren.
  • Anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen.
  • Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben.
  • Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung (Tendenz zur Dosissteigerung).
  • Bei Beendigung oder Reduktion des Konsums kommt es manchmal zu einem körperlichen Entzugssyndrom.

Studie: Absetzsymptome treten nach Antidepressiva und Placebo auf

Nach dem Absetzen von Antidepressiva leidet etwa ein Drittel der Patienten unter Symptomen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Reizbarkeit, Übelkeit und Schlaflosigkeit. Allerdings ist die Hälfte der Symptomatik auf eine negative Erwartungshaltung zurückzuführen – das sind die Ergebnisse einer MetastudieThe Lancet Psychiatry: „Incidence of antidepressant discontinuation symptoms: a systematic review and meta-analysis“ , Juni 2024 , die im Fachjournal „Lancet Psychiatry“ veröffentlicht wurden.  

Für die Untersuchung hat das Forschungsteam um Prof. Baethge und Dr. Jonathan Henssler, beide Leiter der Arbeitsgruppe Evidence-Based Mental Health an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité, die bestehende Studienlage neu analysiert und eine Metaanalyse durchgeführt. Dafür haben die Forschenden Daten aus rund 79 Studien (35 Beobachtungsstudien und 44 randomisierte kontrollierte Studien) berücksichtigt, in denen die Häufigkeit von Absetzsymptomen gängiger Antidepressiva sowie von Placebo analysiert wurde.

Insgesamt kamen Daten von rund 21.000 Patienten zusammen, die entweder ein Antidepressivum (circa 16.500) oder ein Placebo-Medikament (etwa 4.500) abgesetzt hatten. Die meisten Teilnehmenden bekamen die Antidepressiva aufgrund von Depressionen oder Angststörungen.  

Der Metaanalyse zufolge berichteten rund 31 % der Teilnehmenden von mindestens einem Absetzsymptom – in der Placebo-Gruppe waren es 17 % der Teilnehmenden. Die Forschenden schließen dabei aus, dass der Zeitraum der Einnahmedauer – beispielsweise drei Monate oder ein Jahr – einen Unterschied ausmacht, ob Absetzsymptome auftreten.

Gut zu wissen: Welche Symptome können beim Absetzen von Antidepressiva auftreten?

Zu den typischen Absetzsymptomen nach Beendigung einer antidepressiven Therapie zählen

  • Kopf- und Gliederschmerzen bzw. grippeähnliche Beschwerden,
  • Schlafprobleme und Alpträume,
  • Übelkeit und Erbrechen,
  • Schwindel, Störungen des Gleichgewichts und Benommenheit,
  • Gefühl von Stromschlägen,
  • Angst, Reizbarkeit sowie Unruhe.

Die Symptome treten meist innerhalb von zwei bis vier Tagen auf und verschwinden in der Regel wieder von allein innerhalb von zwei bis sechs Wochen.

Antidepressiva – „echte“ Absetzsymptome bei jeder sechsten bis siebten Person

Die Forschenden schlussfolgern daraus, dass etwa 15 Prozent – also circa jede sechste bis siebte Person – „echte“ Absetzsymptome bei einer antidepressiven Therapie erfährt. Bei den anderen Fällen handele es sich unter anderem um Nocebo-Effekte oder um Beschwerden, die unabhängig vom Behandlungsende auftraten.

Dr. Jonathan Henssler betont, dass „in der Placebo-Gruppe medikamentöse Effekte auszuschließen sind, die Symptome sind also entweder darauf zurückzuführen, dass sie zufällig unabhängig von der Therapie auftraten oder eine Folge des Nocebo-Effekts sind“.

Zur Erinnerung: Unterschied zwischen Placebo- und Nocebo-Effekt

In der Medizin sind Placebo- und Nocebo-Effekte bekannt. Positive Erwartungen können die Wirksamkeit eines Präparats verstärken und sogar bei einem Scheinmedikament zu einer Wirkung führen – das wird Placebo-Effekt genannt.  

Umgekehrt sorgt beim Nocebo-Effekt allein die Erwartung negativer Folgen dafür, dass diese tatsächlich zu spüren sind. Der Effekt ist etwa von den auf Beipackzetteln aufgeführten Nebenwirkungen bekannt: Allein die Erwartung einer Schädigung kann tatsächlich Schmerzen oder Beschwerden auslösen.

Häufigkeit von Absetzsymptomen unterscheidet sich bei Antidepressiva

Wie aus den Studiendaten hervorgeht, litt etwa eine von 35 Personen (knapp 3 %) unter schweren Beschwerden nach dem Absetzen von antidepressiven Substanzen.  

Außerdem ließen die Studienergebnisse darauf schließen, dass das Risiko von Absetzsymptomen bei bestimmten Antidepressiva höher ist als bei anderen.  

So traten beim Absetzen der Wirkstoffe Desvenlafaxin/Venlafaxin, Imipramin und Escitalopram am häufigsten – in 40 % der Fälle – Beschwerden auf. Bei Imipramin, Paroxetin und Desvenlafaxin/Venlafaxin waren die Symptome meist stärker als bei anderen Antidepressiva.  

Einige häufig verwendete Stimmungsaufheller wie Mirtazapin, Bupropion und Amitriptylin wurden in der Studie nicht berücksichtigt.

Beendigung einer antidepressiven Therapie nur mit ärztlicher Rücksprache

Das Absetzen von Antidepressiva sollte immer unter ärztlicher Rücksprache erfolgen. Alle Symptome, die den Betroffenen Unbehagen oder Sorgen bereiten, sollten ernst genommen und durch einen Arzt individuell untersucht bzw. behandelt werden. Quellen:
- https://www.uk-koeln.de/uniklinik-koeln/aktuelles/news-archiv/detailansicht/antidepressiva-neue-daten-zur-haeufigkeit-von-absetzsymptomen/
- https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/151942/Knapp-jeder-Dritte-hat-nach-Absetzen-von-Antidepressiva-Beschwerden?rt=579bf652040de330a94377e866488cd2
- https://www.spektrum.de/news/antidepressiva-absetz-symptome-seltener-als-gedacht/2219085
- https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer-depression
- Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (201217_Antidepressiva-PatientInnen_pdfUA.pdf)