Aktuelles
7 min merken gemerkt Artikel drucken

Begünstigen Erkrankungen wie ADHS Adipositas?

Junge mit Übergwicht wird beim Arzt mit Maßband der Baumumfang gemessen
Kinder und Jugendliche mit neurologischen Entwicklungsstörungen können ein höheres Risiko für einen erhöhten BMI haben. | Bild: Africa Studio / AdobeStock

Kinderärzte beobachten seit einigen Jahren mehrere anhaltende negative Trends bei der Gesundheit von Kindern, die die Vermutung nahelegen, dass Kind sein heutzutage ungesünder ist, als es noch vor rund 50 Jahren war.  

Zu diesen Trends gehören unter anderem:

  • ungesundes EssverhaltenFrontiers in Nutrition: "Unfavorable food consumption in children up to school entry age: results from the nationwide German KiESEL study", Stand: 01.07.2024 
  • ungesundes MedienverhaltenScienceDirect: "Problematic social media use in childhood and adolescence", Stand: 05.02.2024 
  • steigende Tendenz von DiabetesDiabetes/Metabolism Research and Reviews: "Incidence of type 1 diabetes mellitus in children and adolescents under 20 years of age across 55 countries from 2000 to 2022: A systematic review with meta-analysis", Stand: 01.12.2023 
  • Zunahme neurologischer EntwicklungsstörungenJAMA Network: "Neurodevelopmental Disorders Among Publicly or Privately Insured Children in the United States", Stand: 05.01.2022 
  • Zunahme des BMI und von Übergewicht und AdipositasPediatrics: "Changes in the Incidence of Childhood Obesity", Stand: 05.07.2022 
  • Zunahme von KrebserkrankungenBMJ Oncology: "Global trends in incidence, death, burden and risk factors of early-onset cancer from 1990 to 2019", Stand: 14.02.2023 

Einiges spricht dafür, dass mehrere dieser Risikofaktoren in einem Zusammenhang stehen und es globale kausale Faktoren dafür gibt, dass diese Trends weltweit beobachtbar sind.  

Für den Teilbereich der zunehmenden neurologischen Entwicklungsstörungen – zu denen etwa Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS/ADS) oder die Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) zählen – und die Zunahme des durchschnittlichen Body-Mass-Index der Altersgruppe der Kinder (0 bis 14 Jahre) haben jetzt zwei Forschungsgruppen einen wahrscheinlichen direkten Zusammenhang darstellen können.

Beide Gruppen arbeiten in Schweden, allerdings an unterschiedlichen Forschungseinrichtungen, und sie näherten sich der Fragestellung von zwei verschiedenen Seiten.

Zur Erinnerung: Was ist ADHS?

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist die am häufigsten diagnostizierte psychische Krankheit bei Kindern. Betroffene sind oft unaufmerksam, können sich schlecht konzentrieren und ihre Gefühle nur schwer kontrollieren. 

Die genauen Ursachen sind unklar, Fachleute vermuten sowohl genetische Faktoren als auch Umwelteinflüsse. Die Störung zieht häufig Schwierigkeiten in der Schule, in der Familie und im sonstigen sozialen Umfeld nach sich. Auch Erwachsene können unter ADHS leiden.

Daten aus schwedischer Zwillingsstudie

Die erste Gruppe um Dr. Miguel Garcia-Argibay von der School of Medical Sciences der Faculty of Medicine and Health an der Örebro Universität untersuchte für ihre aktuelle Studie aus dem Datensatz der „Child and Adolescent Twin Study in Sweden“ (CATSS) die Daten von 24.969 Kindern und Jugendlichen, die zwischen dem 1. Januar 1992 und dem 31. Dezember 2010 geboren wurden.  

Untersucht wurden die Kinder zwischen den Jahren 2004 und 2020 im Alter zwischen neun und zwölf Jahren daraufhin, ob bei ihnen neurologische Entwicklungsstörungen (neurodevelopmental disorders, NDD) vorlagen.  

Die Forschenden nahmen die Frage „Hat sich der Body-Mass-Index (BMI) von Jugendlichen mit neurologischen Entwicklungsstörungen (NDD) im Laufe der Zeit im Vergleich zu Jugendlichen ohne NDD verändert?“ als Ausgangspunkt ihrer Studie. Die Ergebnisse veröffentlichten sie online im Fachmagazin JAMA Network OpenJAMA Network Open: "Trends in Body Mass Index Among Individuals With Neurodevelopmental Disorders", Stand: 04.09.2024 .  

Erwartungsgemäß konnten sie insgesamt einen Anstieg des durchschnittlichen BMI über den Zeitraum von 2004 bis 2020 feststellen. In allen sogenannten statistischen Perzentilen gab es einen Anstieg. Die Forschenden konnten aber zeigen, dass im Vergleich Kinder mit einer NDD gegen Kinder ohne diagnostizierte NDD einen stärkeren Anstieg insbesondere in der sogenannten 85. Perzentile des BMI für die Altersgruppe zeigten. Das bedeutet, 85 Prozent der Vergleichsgruppe sind leichter – es finden sich also unter den 15 Prozent der schwersten Kinder (also mit dem höchsten BMI) mehr Kinder mit NDD als ohne.

Kinder mit NDD haben einen höheren Anstieg im oberen BMI-Bereich

Die Forschenden fassen das so zusammen: „In dieser Studie wurde festgestellt, dass der BMI bei Kindern mit NDD im Vergleich zu Kindern ohne NDD am oberen Ende der BMI-Verteilung von 2004 bis 2020 deutlich stärker ansteigt, was eine Verschärfung der gewichtsbezogenen Ungleichheiten bei Kindern mit NDD widerspiegelt.“

Konzertierte Anstrengungen in den Bereichen Medizin, Gesellschaft und Politik schienen dringend erforderlich zu sein, um Fettleibigkeit in dieser Hochrisikogruppe zu verhindern und zu behandeln, schreiben die Autoren der Studie.

Insgesamt hatten 1.103 (4 %) der erfassten 24.969 Kinder ein positives Screening-Ergebnis für eine oder mehrere NDD. Die Diagnose ADHS erhielten 56 Prozent, ASD 43 Prozent, Lernstörungen lagen bei 36 Prozent vor.

Als mögliche Erklärungen schlagen die Forschenden vor, dass eventuell die mehr zur Verfügung stehenden hochverarbeiteten Lebensmittel einen stärkeren Einfluss auf Kinder mit NDD haben könnten – oder dass betroffene Kinder mehr Bildschirmzeit haben könnten und es den NDD-Kindern schwerer fallen könnte, diese einzuschränken. 

Die Wissenschaftler schlagen etwa vor, dass Schulen Mittel für körperliche Bewegung, Ernährung und Adipositas-Prävention in Sonderschulprogrammen erhalten sollten.

Ansatz von der anderen Seite: NDD als Risikofaktor für höheren BMI

Eine andere, ebenfalls schwedische Forschungsgruppe um Maria Dellenmark-Blom vom Department of Pediatrics am Institute of Clinical Sciences der Gothenburg Universität untersuchte den Zusammenhang zwischen Adipositas und NDD von der anderen Seite her.

In ihrer Studie, die im Fachmagazin Frontiers in PsychiatryFrontiers in Psychiatry: "Neurodevelopmental disorders in children seeking obesity treatment- associations with intellectual ability and psychiatric conditions", Stand: 19.08.2024  erschien, untersuchten sie die Daten von 80 Kindern aus zwei Adipositas-Ambulanzen – also bereits von Adipositas Betroffenen.

Dabei wurden die Kinder in den Jahren 2018 und 2019 auf eine vorliegende NDD hin untersucht, sofern sofern diese nicht bereits diagnostiziert worden war. Die Forschenden fanden eine entsprechende Diagnose für die Mehrzahl der Kinder – 47 der 80 waren von NDD betroffen. Dabei wurde die Diagnose für 17 Kinder erst im Zuge dieser Untersuchung gestellt. In einem Follow-up der Studie wurden bei 21 Teilnehmenden weitere psychische Störungen gefunden.

Die Forschenden schließen daraus, dass es mindestens eine deutliche Überlappung zwischen NDD und Adipositas gibt und entsprechende Screenings bei Betroffenen einen klinischen Nutzen haben.

Insgesamt lässt sich aus den Studien ableiten, dass eine vorliegende NDD einen Risikofaktor für einen höheren BMI darstellt und gezielte Adipositas-Prävention bei Betroffenen von Nutzen ist. Die genauen kausalen Zusammenhänge sind bislang aber noch unklar. Quellen:
- Spiegler Clarissa , Jansen Sara , Burgard Leonie , Wittig Friederike , Brettschneider Anna-Kristin , Schlune Andrea , Heuer Thorsten , Straßburg Andrea , Roser Silvia , Storcksdieck Genannt Bonsmann Stefan , Ensenauer Regina; Unfavorable food consumption in children up to school entry age: results from the nationwide German KiESEL study; Frontiers in Nutrition; Vol.11; 2024; DOI 10.3389/fnut.2024.1335934; https://www.frontiersin.org/journals/nutrition/articles/10.3389/fnut.2024.1335934/full
- Christian Montag, Zsolt Demetrovics, Jon D. Elhai, Don Grant, Ina Koning, Hans-Jürgen Rumpf, Marcantonio M. Spada, Melina Throuvala, Regina van den Eijnden; Problematic social media use in childhood and adolescence; Addictive Behaviors; Volume 153, 2024; 107980; https://doi.org/10.1016/j.addbeh.2024.107980.; https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0306460324000297
- Hormazábal-Aguayo I, Ezzatvar Y, Huerta-Uribe N, Ramírez-Vélez R, Izquierdo M, García-Hermoso A. Incidence of type 1 diabetes mellitus in children and adolescents under 20 years of age across 55 countries from 2000 to 2022: A systematic review with meta-analysis. Diabetes Metab Res Rev. 2024;e3749. https://doi.org/10.1002/dmrr.3749; https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/dmrr.3749
- Straub L, Bateman BT, Hernandez-Diaz S, et al. Neurodevelopmental Disorders Among Publicly or Privately Insured Children in the United States. JAMA Psychiatry. 2022;79(3):232–242. doi:10.1001/jamapsychiatry.2021.3815; https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/2787342
- Solveig A. Cunningham, Shakia T. Hardy, Rebecca Jones, Carmen Ng, Michael R. Kramer, K.M. Venkat Narayan; Changes in the Incidence of Childhood Obesity. Pediatrics August 2022; 150 (2): e2021053708. 10.1542/peds.2021-053708; https://publications.aap.org/pediatrics/article/150/2/e2021053708/188480/Changes-in-the-Incidence-of-Childhood-Obesity
- Zhao J, Xu L, Sun J, et al. Global trends in incidence, death, burden and risk factors of early-onset cancer from 1990 to 2019. BMJ Oncology; 2023;2:e000049. doi:10.1136/bmjonc-2023-000049; https://bmjoncology.bmj.com/content/bmjonc/2/1/e000049.full.pdf
- Garcia-Argibay M, Lundström S, Cortese S, Larsson H. Trends in Body Mass Index Among Individuals With Neurodevelopmental Disorders. JAMA Netw Open. 2024;7(9):e2431543. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.31543 https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2823143
- Dellenmark-Blom Maria , Järvholm Kajsa , Sjögren Lovisa , Levinsson Anna , Dahlgren Jovanna; Neurodevelopmental disorders in children seeking obesity treatment- associations with intellectual ability and psychiatric conditions; Frontiers in Psychiatry; Vol. 15; 2024; DOI 10.3389/fpsyt.2024.1332598; https://www.frontiersin.org/journals/psychiatry/articles/10.3389/fpsyt.2024.1332598/full