Impfkomplikationen bei Vektorimpfstoffen: „Schlafender Drache“: Immunreaktion auf Autopilot
Für die seltenen schweren Impfkomplikationen im Zusammenhang mit den Präparaten von AstraZeneca und Johnson & Johnson kann Experten zufolge bisher keine genaue Risikogruppe und kein bestimmter Risikofaktor definiert werden. Das sagte der Direktor des Mikrobiologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen, Christian Bogdan, am Dienstag in einer Videoschalte des Science Media Center. Er ist Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO).
Vorsicht bei HIT in der Vergangenheit
Eine mögliche Ausnahme könnten Menschen sein, die schon einmal eine Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) hatten, die Ähnlichkeiten mit der Impfkomplikation hat. Andere Risikofaktoren, die üblicherweise für Thrombosen genannt werden, seien kein begünstigender Faktor für die spezielle Impfnebenwirkung, sagte Bogdan. Für die Frage, ob man sich mit einem der Impfstoffe impfen lassen will, seien die individuelle Risikobereitschaft und das COVID-19 Erkrankungsrisiko je nach Alter und Vorerkrankung wichtig. Die Komplikation endete teils tödlich.
Zur Erinnerung: Was ist die HIT?
Bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT) kommt es im Rahmen der blutgerinnungshemmenden Therapie mit Heparin zu einem Abfall der Blutplättchen- (Thrombozyten-) Anzahl. Es werden dabei zwei Arten unterschieden:
- Die HIT vom Typ I tritt kurz nach Therapiebeginn auf und verläuft in der Regel ohne Komplikationen. Die Thrombozytenzahl normalisiert sich rasch wieder, ohne dass das Heparin abgesetzt werden muss.
- Bei der HIT vom Typ II kommt es mit Verzögerung (etwa 2 bis 14 Tage) nach Therapiebeginn zu einem starken Abfall der Blättchenzahl und gleichzeitiger IgG-vermittelten Plättchen-Aktivierung. In der Folge bilden sich Blutgerinnseln. Das sofortige Absetzten von Heparin ist bei diesem Typ zwingend erforderlich.Quelle: Mutschler Arzneimittelwirkungen, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft / Universitätsklinikum Heidelberg / sn
Keine Priorisierung bei Johnson & Johnson und AstraZeneca mehr
Am vergangenen Montag war die Entscheidung bekannt geworden, dass die STIKO den Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson wie den von AstraZeneca in der Regel für Menschen ab 60 empfiehlt. Die Impfstoffe können allerdings nach ärztlicher Aufklärung und bei „individueller Risikoakzeptanz“ weiter auch Jüngeren verabreicht werden. Eine Vorrangliste gibt es für beide Mittel nun nicht mehr. Zum Produkt von Johnson & Johnson, das hierzulande erst seit kurzem im Einsatz ist, waren Daten aus den USA für die STIKO maßgeblich.
Immunreaktion auf Autopilot
Bei der beobachteten, seltenen Nebenwirkung handelt es sich um Blutgerinnsel an ungewöhnlichen Orten mit einem Mangel an Blutplättchen. Experten sprechen von Thrombosen mit Thrombozytopenie, kurz TTS. Den Mechanismus dieser Autoimmunerkrankung verglich Andreas Greinacher (Universitätsmedizin Greifswald), der zu der Komplikation forscht, mit einem schlafenden Drachen in einer Höhle, der aufgeweckt und geärgert werde. Durch die Impfung werde ein „evolutionär ziemlich altes Immunsystem“ zum Arbeiten angeregt. Dann laufe eine Immunreaktion „quasi auf Autopilot“, die starke Gerinnungsaktivierungen durchführe.
Geschlecht nicht unbedingt entscheidend
Aus Deutschland seien mittlerweile 59 von 67 Fällen untersucht worden, sagte Greinacher. Warum die Komplikation bei einem von 40.000 oder 50.000 Geimpften auftrete, sei noch unklar. Wahrscheinlich kämen beim Einzelnen mehrere seltene Faktoren zusammen.
Über die beobachtete Fallhäufung bei Frauen nach Impfungen mit AstraZeneca sagte der Experte: „Dieser deutliche Unterschied zwischen den Geschlechtern ist am Anfang nur der Spiegel gewesen, dass in unserem Gesundheitssystem vor allen Dingen Frauen arbeiten.“ Diese wurden zunächst vorrangig geimpft. Greinacher erklärte aber auch, es sei von nahezu allen Immun- und Autoimmunreaktionen bekannt, dass Frauen etwas mehr betroffen sind. Wenn man eine sehr starke Überzahl von Frauen in der geimpften Kohorte und ein „klein bisschen höheres Risiko“ zusammennehme, komme man schnell zu dem Eindruck, es seien vor allem Frauen betroffen.
Ältere etwas weniger häufig betroffen
Auch Ältere scheinen noch ein gewisses, aber wohl geringeres Risiko zu haben. Das Problem sei in Großbritannien und Kanada auch bei ihnen aufgetreten, sagte Greinacher. „Wir wissen aber grundsätzlich, dass das körpereigene Abwehrsystem bei älteren Menschen ein bisschen weniger funktionsfähig ist als bei jungen Menschen.“ Womöglich falle das Zusatzsignal für die Fehlleitung der Immunantwort bei ihnen etwas moderater aus. Das Risiko steige oder falle auch nicht dramatisch je nachdem, ob man 59 oder 61 Jahre alt sei. Der Übergang sei gleitend. Ältere hätten ein viel höheres Risiko für schwere COVID-19-Verläufe, so dass die Risiko-Nutzen-Abwägung bei ihnen anders ausfalle.
Auftreten auch nach der Zweitimpfung möglich
Auch nach der Zweitimpfung kann die Komplikation auftreten – ob seltener oder häufiger als nach Erstimpfung ist Greinacher zufolge anhand der bisherigen Daten aus Großbritannien aber noch nicht klar. Man könne momentan nur sagen: „Eine gut überstandene erste Impfung schließt die Komplikation bei der zweiten Impfung nicht sicher aus.“
Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, hatte kürzlich erklärt: „Das Risiko der speziellen Thrombosen als Nebenwirkung ist sehr gering. Dagegen ist das Risiko einer schweren Komplikation durch COVID-19 für viele Personen sehr viel höher. Lediglich bei den unter 30-Jährigen würde ich zur Verwendung eines mRNA-Impfstoffes raten.“Quelle: dpa/sn