Adipositas-Leitlinie: Was hilft zur Gewichtsabnahme?
Apps, die beim Abnehmen unterstützen, neue Ernährungsstrategien, die auf Evidenz verweisen können, und Ansätze, medizinisches Personal für einen nicht-stigmatisierenden Umgang mit Adipositas-Betroffenen zu sensibilisieren – dies sind einige wesentliche Neuerungen in den jüngst veröffentlichten S3-Leitlinien „Prävention und Therapie der Adipositas“S3-Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas, Stand: 07.10.2024 .
Viel hat sich in den vergangenen zehn Jahren seit der letzten Ausgabe der Leitlinien getan. Und so gibt es nun noch vor dem Ablauf der Gültigkeit der alten Leitlinien eine aktualisierte und ergänzte Neuauflage.
BMI bleibt erste Definitionsgröße
Definiert wird Adipositas allerdings immer noch über den Body-Mass-Index (BMI) nach der Formel:
BMI = Körpergewicht in kg/(Körpergröße in m)2, mit der Einheit kg/m2 (Kilogramm pro Quadratmeter)
Eingeteilt werden die BMI-Werte folgendermaßen:
- Untergewicht < 18,5
- Normalgewicht 18,5–24,9
- Übergewicht ≥ 25,0
- Präadipositas 25,0–29,9
- Adipositas Grad I 30,0–34,9
- Adipositas Grad II 35,0–39,9
- Adipositas Grad III ≥ 40
Allerdings tragen auch die Leitlinien der Ungenauigkeit dieses Maßes Rechnung. So heißt es im Kapitel Diagnostik: „Die Limitationen des BMI sollten jedoch immer bedacht werden. Der BMI ist ein Maß, das den Körperfettanteil nur ungenau beschreibt, das heißt ein Maß für das Übergewicht und nur annäherungsweise für das überschüssige Körperfett.
Faktoren wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Muskelmasse können die Beziehung zwischen BMI und Körperfett beeinflussen. Außerdem unterscheidet der BMI nicht zwischen überschüssigem Fett, Muskel- oder Knochenmasse und gibt auch keinen Hinweis auf die Verteilung des Fettgewebes.“
Dementsprechend haben
- ältere Erwachsene bei gleichem BMI mehr Körperfett als jüngere Erwachsene,
- Frauen im Durchschnitt mehr Körperfett als Männer bei gleichem BMI und
- muskulöse Personen oder hochtrainierte Sportler möglicherweise einen hohen BMI wegen einer erhöhten Muskelmasse.
Leitlinie greift neues Kapital zur Stigmatisierung von Adipositas auf
Bereits als zweites Kapitel hinter der Definition der Adipositas steht „Stigmatisierung“ in den neuen Leitlinien. „Wegen der eher zunehmenden Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem“ habe man dieses nun mit aufgenommen, heißt es im Vorwort.
Dabei gehen die Experten der 16 beteiligten Fachgesellschaften unter Federführung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V. auf die Definition von Stigmatisierung der Adipositas in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem, aber auch auf Selbststigmatisierung der Betroffenen ein.
Es zeige sich eine „deutliche Evidenz für interpersonelle und strukturelle gewichtsbezogene Stigmatisierung im Gesundheitswesen“, befinden die Experten. Sie empfehlen unter anderem, dass Prävention und Therapie der Adipositas davon entsprechend frei sein sollten.
Außerdem sollten Ausbildungscurricula „auch über die gewichtsbezogene Stigmatisierung und Selbststigmatisierung sowie deren klinische Implikationen aufklären und praktische Fertigkeiten für einen nicht-stigmatisierenden Umgang mit Menschen mit Adipositas vermitteln“, heißt es in dem Kapitel.
Neue Empfehlungen zur Ernährung bei Adipositas
„Es gibt heute viele, wissenschaftlich gut untersuchte Möglichkeiten, Kalorien einzusparen, sodass jeder Mensch eine für ihn passende Ernährungsweise finden sollte, die es ihm leichter macht, sein Gewicht im Griff zu behalten“DAG "Veröffentlichung aktualisierte S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“, Stand: 11. Oktober 2024 , sagt Prof. Dr. Hans Hauner von der Technischen Universität München, einer der beiden Koordinatoren der DAG für die Leitlinien-Aktualisierung.
Dementsprechend haben die Fachleute im Bereich Ernährungstherapie viele neue Konzepte ergänzt, die sich mit einer ganzen Reihe von Studien auf eine breite Evidenz stützen können. „Um eine langfristige Gewichtssenkung zu erreichen, ist eine dauerhafte Verringerung der Energiezufuhr notwendig“, heißt es. Dabei solle „ein tägliches Energiedefizit von etwa 500–600 kcal/Tag oder alternativ ein individuell ermitteltes Energiedefizit“ angestrebt werden.
Als Ernährungsstrategien, die dabei helfen, werden empfohlen:
- Reduktion der Fettzufuhr
- Reduktion der Kohlenhydratzufuhr
- Ernährung nach den zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE)
- Mediterrane Kost
- Vegetarische/vegane Ernährung
- Mahlzeitenersatzstrategie
- Intermittierendes Fasten
Dabei sollten „die Individualität der Betroffenen, die Lebensumstände und die vorhandenen Ressourcen“ berücksichtigt werden und immer eine patientenzentrierte Empfehlung erfolgen.
GLP-1-Agonisten bei Adipositas
Dem großen Erfolg und der Aufmerksamkeit, die GLP-1-Agonisten wie Wegovy®, Ozempic® und Mounjaro® haben, tragen auch die neuen Leitlinien Rechnung. „In der Pharmakotherapie der Adipositas gibt es seit kurzem eine fulminante Entwicklung mit neuen GLP-1-basierten Pharmaka, die eine eindrucksvolle Senkung des Körpergewichts zeigen und eine Besserung von Begleit- und Folgekrankheiten belegen. Damit wird die adjuvante Pharmakotherapie zukünftig einen neuen Stellenwert in der Adipositastherapie erhalten“, heißt es im Vorwort.
Eine Empfehlung lautet dementsprechend: „Wenn bei Patienten mit T2DM eine Gewichtsreduktion ein Therapieziel ist, sollten zur adjuvanten medikamentösen Therapie der Adipositas GLP-1 Rezeptoragonisten eingesetzt werden.“
Außerdem heißt es als Empfehlung, dass „die Wahl der medikamentösen Therapie in Abhängigkeit der patientenindividuellen Therapieziele, der Verträglichkeit und Sicherheit, der Komorbiditäten, des Wirkmechanismus, der Applikation und des individuellen Ansprechens auf die Medikation“ getroffen werden solle – neben Liraglutid (Mounjaro®) geht die Leitlinie insbesondere noch auf den Lipasehemmer Orlistat ein.
Vorrangig sehen die Empfehlungen der neuen Leitlinie aber wie bisher vor, dass zunächst eine „klinisch signifikante und nachhaltige Gewichtsreduktion mittels Ernährungs-, Bewegungs- oder Verhaltenstherapie“ angestrebt werden soll.
E-Health: Digitale Tools zur Gewichtsreduktion
„Die multimodale Basistherapie zur Gewichtsreduktion kann über digitale Tools unterstützt werden“, lautet eine neue Empfehlung, die sich im neuen Therapie-Unterkapitel „E-Health“ mit den vielfältigen neuen digitalen Anwendungen beschäftigt.
„Digitale Tools“ sind dabei auf der einen Seite Wearables wie Smartwatches oder Fitness-Tracker –sowie gegebenenfalls intelligente kontinuierliche Glukosesensoren. Auf der anderen Seite stehen zertifizierte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) oder auch verschiedene nicht zertifizierte etwa den Lebensstil oder die Ernährung unterstützende Apps zur Verfügung.
„Hierzu gab es in den letzten Jahren eine Vielzahl von neuen Ansätzen und Studien, die die Wirksamkeit und Sicherheit digitaler Adipositasprogramme untersucht hatten“, schreiben die Autoren. Trotz begrenzter Evidenz habe man „mehrere Empfehlungen aufgenommen, die den Nutzen solcher Ansätze darstellen“.
Unter anderem heißt es, „DiGA … können zur Gewichtsreduktion verordnet werden“ und „telefonbasierte oder internetbasierte Interventionen können eine Gewichtsreduktion erzielen, die mit persönlichen Interventionen vergleichbar sind“.
Zu den Apps heißt es: „App-basierte Interventionen (inkl. Wearables) können die Gewichtsreduktion unterstützen, ersetzen jedoch die persönliche Betreuung durch qualifiziertes Fachpersonal nicht.“
Diagnostik bei Adipositas als eigenständiges Kapitel
Da der BMI nicht alles ist, gibt es mittlerweile ein eigenständiges Kapitel zur Diagnostik der Adipositas. Unter „Anthropometrie“ geben die Fachleute dabei auch die Empfehlung, den relativen Gewichtsverlust bzw. einen Gewichtsanstieg im Therapieverlauf zu beobachten, zu dokumentieren und mit den Betroffenen zu besprechen.
Ergänzend zum BMI könnten außerdem zu Therapiebeginn „der Taillenumfang („waist circumference“) und gegebenenfalls der Hüftumfang („hip circumference“) sowie die abgeleiteten Größen „Waist-to-Hip ratio“ (WHR) bzw. „Waist-to-Height ratio“ (WHtR)“ erhoben werden, heißt es – und bei entsprechender Indikation auch die Körperzusammensetzung.
Die Experten empfehlen außerdem, auf Komorbiditäten zu achten und Faktoren zu Ernährung, Bewegung und Verhalten zu erfassen. Nicht zuletzt gibt es Empfehlungen, Blutwerte wie das Hormon TSH sowie Gesamt-Cholesterin, LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin und Nüchternglucose zu bestimmen. Ferner wird auch empfohlen, Triglyceride, Harnsäure, Kreatinin/eGFR, Albuminurie sowie Vitalparameter, wie den Blutdruck, zu dokumentieren.
Damit sollen kardiovaskuläre Risiken, Komorbiditäten oder Ursachen im Stoffwechsel erfasst werden.
Was empfiehlt die Leitlinie zur Prävention von Adipositas?
Nicht zuletzt enthält die neue Leitlinie auch weiterhin Empfehlungen zur Prävention. Dabei heißt es, zur Prävention der Adipositas …
- … soll eine ausgewogene und bedarfsgerechte Ernährung empfohlen werden.
- ... soll von extrem einseitigen Ernährungsweisen bzw. Diäten abgeraten werden.
- ... sollten die Hinweise der DGE zur veganen Ernährung beachtet werden, wenn zur Vermeidung einer ungesunden Gewichtszunahme eine Ernährungsweise praktiziert wird, die keinerlei tierische Lebensmittel enthält.
- … sollte der Verzehr von hochverarbeiteten Lebensmitteln mit hoher Energiedichte begrenzt werden.
- … soll empfohlen werden, den Konsum von Getränken mit hohem Zuckergehalt zu begrenzen.
- … sollten, zum Decken des Flüssigkeitsbedarfs, bevorzugt Wasser und andere ungesüßte, zucker- und kalorienarme, nichtalkoholische Getränke konsumiert werden.
- … kann empfohlen werden, Getränke mit kalorienfreien oder kalorienarmen Süßungsmitteln gegenüber Getränken mit Zuckerzusatz vorzuziehen.
- … sollte der Konsum alkoholischer Getränke begrenzt werden.
- … sollte auf einen hohen Ballaststoffanteil in der Ernährung geachtet werden.
- ... sollte die Zufuhr freier Zucker (Mono- und Disaccharide, die Hersteller oder Verbraucher Lebensmitteln zusetzen, sowie in Honig, Sirupen, Fruchtsaftkonzentraten und Fruchtsäften natürlich vorkommende Zucker) an der Gesamtenergiezufuhr auf weniger als 10 % begrenzt werden.
- … ist die Höhe der Gesamtenergiezufuhr relevanter als das Kohlenhydrat-, Fett- und Proteinverhältnis der Gesamtenergiezufuhr.
- ... sollte bei der Verteilung der Makronährstoffe (Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate) auf deren Qualität geachtet werden.
- ... können als Orientierungswerte für die empfohlene Makronährstoffzufuhr die Referenzwerte der DGE herangezogen werden.
- ... können für die Vermeidung einer ungesunden Gewichtszunahme Ernährungsweisen mit unterschiedlicher zeitlicher Verteilung der Nahrungsaufnahme über den Tag empfohlen werden.
- … sollten Portionsgrößen begrenzt werden.
- ... sollte man sich in Alltag, Freizeit und Beruf regelmäßig körperlich bewegen, um eine ungesunde Gewichtszunahme zu vermeiden.
- … sollten sitzende Tätigkeiten begrenzt werden.
- … können Methoden des Selbstmonitorings empfohlen werden, um körperliche Bewegung zu steigern.
- … kann empfohlen werden, eine hohe chronische negative Stressbelastung zu vermeiden.
- … sollte auf eine ausreichende Schlafdauer sowie einen regelmäßigen Schlafrhythmus geachtet werden.
- ... sollte ärztlicher Rat gesucht werden von Personen, die bei sich selber eine unerwünschte Gewichtszunahme beobachten.
- ... sollte Rauchern ein Rauchstopp empfohlen werden, wenn dieser mit einer Gewichtszunahme einhergeht. (Die gesundheitlichen Vorteile eines Rauchstopps überwiegen die gesundheitlichen Nachteile einer Gewichtszunahme, die in Folge eines Rauchstopps auftreten kann.)
- ... sollte von Nahrungsergänzungsmitteln zur Gewichtskontrolle, homöopathischen Abnehmmitteln und anderen nichtevidenzbasierten Methoden der Adipositasprävention abgeraten werden.
- ... sollte Personen, unabhängig von dem Gewichtsstatus, eine qualifizierte Ernährungs- und Bewegungsberatung in der Primärversorgung angeboten werden.
- ... sollte bei Medikamenten, die mit einer relevanten Gewichtszunahme einhergehen können, dies bei der Entscheidung über eine Verordnung im Rahmen der Nutzen-Schadens-Abwägung berücksichtigt werden. Wird ein solches Medikament verordnet, sollten Patienten auf die Möglichkeit einer Gewichtszunahme hingewiesen werden und Gewichtsmanagementmaßnahmen und eine gegebenenfalls mögliche Umstellung der Medikation mit dem Patienten besprochen werden.
- ... sollten auf Bevölkerungsebene evidenzinformierte verhältnispräventive Maßnahmen ergriffen werden, um zu einem gesundheitsförderlichen Ernährungsumfeld beizutragen.
- ... sollten auf Bevölkerungsebene evidenzinformierte verhältnispräventive Maßnahmen zur Förderung körperlicher Aktivität ergriffen werden.
Quellen:
- Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V.; S3-Leitlinie Adipositas - Prävention und Therapie; Version 5.0 Oktober 2024 https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/050-001.html
- Deutsche Adipositas Gesellschaft; Veröffentlichung aktualisierte S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“; 11. Oktober 2024; Pressemitteilung https://adipositas-gesellschaft.de/veroeffentlichung-aktualisierte-s3-leitlinie-zur-praevention-und-therapie-der-adipositas/