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Semaglutid: Erhöhtes Risiko für Augenschäden?

Frau wird von Augenärztin untersucht
Semaglutid könnte das Risiko für eine nicht arterielle anteriore ischämische Optikusneuropathie (NAION) erhöhen. Bei dieser Augenerkrankung ist der Blutfluss zum Sehnerv gestört, was zu einem Sehverlust führen kann. | Bild: Yakobchuk Olena / AdobeStock

Der GLP‑1-Rezeptoragonist Semaglutid senkt den Blutglukosespiegel und hemmt den Appetit. Das Diabetes- und Abnehmarzneimittel – mit den jeweiligen Handelsnamen Ozempic® und Wegovy® – könnte jedoch neben den sehr häufigen und bereits bekannten Nebenwirkungen Hypoglykämie (bei Kombination mit zum Beispiel Insulin), Übelkeit und Erbrechen auch zu einer Degeneration des Sehnervs mit bleibender Sehverschlechterung führen. 

Ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern aus Boston stieß auf eine Assoziation zwischen Semaglutid und einer nicht arteriellen anterioren ischämischen Optikusneuropathie (NAION). Ihre Arbeit veröffentlichten sie im Fachjournal „JAMA Ophtalmology“.

Zur Erinnerung: Wie wirken GLP-1-Rezeptoragonisten?

Als Analogon zum humanen Glucagon-like Peptide (GLP-1) übernehmen Semaglutid und Co. die Funktionen von GLP-1 – unter anderem die Regulierung des Appetits und der Nahrungsaufnahme. Semaglutid senkt glucoseabhängig den Blutzuckerspiegel und verlangsamt die Magenentleerung. Durch eine Verringerung des Appetits wird die Energieaufnahme und damit letztlich das Körpergewicht reduziert. Zusätzlich verringert Semaglutid die Vorliebe für fettige Speisen.

Eine anschauliche Erklärung zur Wirkung von Antidiabetika erhalten Sie in unserem Erklärvideo zu Diabetes mellitus Typ 2.

Unter Semaglutid häufiger Augenerkrankung

Die Forschenden um Erstautorin Jimena Tatiane Hathaway hatten retrospektiv 16.827 Patientendaten einer neuroophtalmologischen Einrichtung ausgewertet. Dabei haben sie untersucht, ob die Verordnung von Semaglutid bei Typ-2-Diabetikern oder übergewichtig bis fettleibigen Patienten mit einem höheren Risiko für eine nicht arterielle anteriore ischämische Optikusneuropathie (NAION) assoziiert war. 

Von den 719 Menschen mit Typ-2-Diabetes in dieser Kohorte hatten 194 Semaglutid verschrieben bekommen, 516 ein anderes antidiabetisches Arzneimittel – es kam zu 17 NAION-Ereignissen unter Semaglutid verglichen mit sechs in der Vergleichsgruppe. 

Somit lag das Risiko für eine NAION für Diabetiker mit Semaglutid während der dreijährigen Beobachtungszeit bei 8,9 Prozent (95 % KI 4,5 % – 13,1 %). Wendeten die Patienten hingegen ein anderes Antidiabetikum an, hatten sie mit 1,8 Prozent (95 % KI 0 % – 3,5 %) ein deutlich geringeres Risiko für eine nicht arterielle anteriore ischämische Optikusneuropathie.

Gut zu wissen: Was ist eine NAION?

Die nicht arterielle anteriore ischämische Optikusneuropathie (NAION) äußert sich regelhaft in einer akuten plötzlichen Sehverschlechterung auf einem Auge. Eine Papillenschwellung ist obligat, diese bildet sich nach ein bis zwei Monaten zurück, wobei sich das Sehvermögen meist nicht wieder bessert. 

Die Ursache einer NAION ist unklar, vermutet wird eine vaskuläre Minderversorgung, die den Blutfluss zum Sehnerv unterbricht. Mit einer Inzidenz von 1:10.000 zählt die NAION zu den seltenen Erkrankungen. Diabetes mellitus gehört zu den Risikofaktoren für die Augenerkrankung.

Übergewichtig oder gar adipös waren 979 Patienten in der Gesamtkohorte, von diesen hatten 361 Semaglutid verordnet bekommen, 618 hingegen ein anderes Präparat zur Gewichtsreduktion. 

Auch hier zeigte sich ein Nachteil für Patienten mit Semaglutid beim Endpunkt NAION: Das Risiko für eine NAION lag unter Semaglutid bei 6,7 Prozent (95 % KI 3,6 % – 9,7 %) – insgesamt 20 Fälle –, unter anderen Antiadiposita gab es lediglich drei Fälle und das NAION-Risiko belief sich auf 0,8 Prozent (95 % KI 0 % – 1,8 %).

Semaglutid: Weitere Untersuchungen sind notwendig

Wichtig ist: Die Studie zeigt lediglich einen Zusammenhang zwischen der sehkraftbedrohenden Optikusneuropathie und der Anwendung von Semaglutid. Eine Kausalität lässt sich aufgrund des Studiendesigns jedoch nicht ableiten, weswegen den Studienautoren zufolge weitere Untersuchungen folgen sollten. 

Diese Ansicht vertritt auch Professor Graham McGeown, Honorarprofessor für Physiologie, Queen's University Belfast (QUB), Vereinigtes Königreich, der sich gegenüber dem Science Media Center (SMC, UK) äußert: „Angesichts des raschen Anstiegs der Verwendung von Semaglutid und seiner möglichen Zulassung für eine Reihe anderer Probleme als Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes verdient diese Frage weitere Untersuchungen“, da mögliche Nebenwirkungen des Medikaments immer gegen den wahrscheinlichen Nutzen abgewogen werden müssten.

Schwere der Grunderkrankung könnte NAION-Risiko beeinflussen

Wie jede Studie hat auch diese Schwächen. McGeown erklärt, dass trotz des Versuches der Studienautoren Störfaktoren zu minimieren, dies schwierig sei. So könne zum Beispiel auch die Schwere des zugrundeliegenden Diabetes beziehungsweise der Fettleibigkeit das Risiko für eine NAION beeinflusst haben, meint Professor Graham McGeown.

Semaglutid vor allem bei Menschen mit schwererer Erkrankung?

Auch Professor Margret Morris, Professorin für Pharmakologie an der School of Biomedical Sciences, University of New South Wales, Sydney, Australien, kommt beim SMC zu Wort. Sie betont ebenfalls die – auch von den Studienautoren beschriebenen – möglichen Verzerrungen: Die Gruppe, die Semaglutid erhalten habe, sei älter gewesen als die andere Gruppe, wobei die Studienautoren bei diesem Punkt vermuteten, dass dieser Altersunterschied das verschiedene NAION-Risiko nicht erkläre. Auch könnte Semaglutid mit größerer Wahrscheinlichkeit bei Personen mit schwereren Erkrankungen eingesetzt worden sein, überlegt Morris. Insgesamt stuft sie die Studie als „interessant“ ein.

Klar wird: Sowohl die Studienautoren als auch die Experten des SMC halten es für sinnvoll, die Ergebnisse der Assoziationsstudie nun in weiteren größeren Untersuchungen – mit vielleicht besser beschriebenen Diagnosekriterien – weiterzuverfolgen, um festzustellen, ob ein ursächlicher oder lediglich zufälliger Zusammenhang zwischen Semaglutid und einer NAION besteht. Quellen:
- Hathaway JT et al. (2024): Risk of Nonarteritic Anterior Ischemic Optic Neuropathy in Patients Prescribed Semaglutide. Jama Ophthalmology. DOI: 10.1001/jamaophthalmol.2024.2296
- Science Media Center: Semaglutid könnte Risiko für Augenerkrankung erhöhen. Statement vom 3. Juli 2024
- Deutsches Ärzteblatt: Sehnervenerkrankung: Risikofaktoren für nichtarteriitische Optikusneuropathie identifiziert. Dtsch Arztebl 2017; 114(40): A-1811 / B-1540 / C-1508