Multiple Sklerose: Therapie mit CAR-T-Zellen?
Noch immer besteht eine Therapielücke bei progredienten (fortschreitenden) Verläufen von Multipler Sklerose (MS). Während zugelassene immunmodulierende Arzneimittel die Entzündungsaktivität im Frühstadium der Multiplen Sklerose teilweise gut regulieren, versagen diese Wirkstoffe bei der schwelenden Entzündung im ZNS (Zentralnervensystem), die bei fortschreitender MS dominiert.
Auch der bei primär progredienter MS (PPMS) zugelassene CD20-Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®) enttäuscht im klinischen Alltag bei PPMS und kann das Fortschreiten der Multiplen Sklerose und die Behinderungszunahme nicht stoppen.
Zur Erinnerung: Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), charakterisiert durch eine Neuroinflammation und darauffolgende Neurodegeneration.
Bei den meisten Menschen mit MS – 85 bis 90 Prozent – verläuft die Erkrankung zunächst in Schüben (Relapsing-remitting MS, RRMS). Ein kleiner Teil (10 bis 15 Prozent) der Patienten erfährt eine kontinuierliche Verschlechterung (primär progrediente MS, PPMS), bei der sich keine Schübe abgrenzen lassen.
Auch von den initial schubförmig erkrankten MS-Patienten entwickeln 80 Prozent innerhalb von 20 Jahren eine progrediente Form (sekundär progrediente MS, SPMS).
Zu Krankheitsbeginn lässt sich eine T-Zell-Aktivierung beobachten und, dass Immunzellen ins ZNS einwandern. Im Verlauf der MS dominiert eine ZNS-interne schwelende Entzündung, die die derzeit zugelassenen Arzneimitteln allerdings nicht angemessen adressieren – auch neuere Wirkstoffe, wie die B-Zell-depletierenden Antikörper (Ocrelizumab in Ocrevus®, Ofatumumab in Kesimpta®, Ublituximab in Briumvi®), nicht.
BTKI (Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren) sind kleine Moleküle, die ins ZNS gelangen, und die Wissenschaft hofft, dass diese die schwelenden ZNS-Entzündungen besser erreichen. Zugelassen ist noch kein BTKI bei MS.
Hoffnung setzt die Wissenschaft in BTKI (Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren), wobei Mercks Kandidat Evobrutinib in zwei Phase-3-Studien (evolutionRMS 1 und evolutionRMS 2) den primären Endpunkt verfehlte und die jährliche Schubrate nicht besser reduzierte als Teriflunomid (Aubagio). Für weitere BTKI, wie Tolebrutinib (Sanofi) und Fenebrutinib (Roche), stehen die Phase-3-Daten noch aus.
CAR-T-Zellen: erfolgreich bei Krebs des Blut- und Lymphsystems
Könnten nun CAR-T-Zellen (CAR = Chimeric Antigen Receptor) bei Multipler Sklerose eine Alternative darstellen? CAR-T-Zellen kennen wir aus der erfolgreichen Therapie maligner Erkrankungen des Blut- und Lymphsystems.
Zunehmend untersuchen Wissenschaftler nun auch, wie wirksam CAR-T-Zellen bei Autoimmunerkrankungen sind, zum Beispiel bei Lupus erythematodes oder Myasthenia gravis.
Bei CAR-T-Zellbehandlungen werden bestimmte körpereigene Immunzellen (T-Zellen) gentechnisch verändert, sodass sie entartete Zellen bei Krebs erkennen und attackieren können.
Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) haben zwei MS-Patienten im Rahmen eines individuellen Heilversuchs in der dortigen Interdisziplinären Klinik und Poliklinik für Stammzelltransplantation kürzlich ebenfalls eine CAR-T-Zelltherapie erhalten. Die eingesetzten CAR-T-Zellen richteten sich gegen fehlgeleitete Immunzellen, und zwar CD19+-B-Zellen, die bei der Pathogenese von MS bedeutend sind (CD19-CAR-T-Zellen).
Zwei Menschen mit MS erhalten CAR-T-Zellen
Im ersten Fall erhielt eine 47-jährige Frau mit einer 23-jährigen MS-Krankheitsgeschichte (initial schubförmige MS) aufgrund fortschreitender neurologischer Verschlechterung seit 2021 den CD20-Antikörper Ocrelizumab (bis drei Monate vor CAR-T-Zelltherapie) und Fampridin (symptomatische Behandlung). Ihr Baseline-EDSS (das ist das Maß für den Behinderungsgrad) lag bei 4,5.
Zur Erinnerung: Was ist der EDSS?
Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit Multipler Sklerose. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5er-Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen Funktionellen Systemen (FS) des Körpers:
- Pyramidenbahn, zum Beispiel Lähmungen
- Kleinhirn, zum Beispiel Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
- Hirnstamm, zum Beispiel Sprach- und/oder Schluckstörungen
- Sensorium, zum Beispiel verminderter Berührungssinn
- Blasen- und Mastdarmfunktion, zum Beispiel Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
- Sehfunktion, zum Beispiel eingeschränktes Gesichtsfeld
- Zerebrale Funktionen, zum Beispiel Wesensveränderung, Demenz
Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS null (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS zehn (Tod durch MS).
Nach CAR-T-Zelltherapie entwickelte sie Fieber und ein Zytokin-Release-Syndrom (Grad 1), eine bekannte Nebenwirkung bei CAR-T-Zellgabe, was die Ärzte mit Tocilizumab (IL-6-Rezeptor-Antikörper) und Dexamethason (Kortikoid) behandelten.
Ihr EDSS verschlechterte sich initial auf 6, was die Studienautoren mit dem Uhthoff-Phänomen erklären – einer temporären MS-Verschlechterung aufgrund einer erhöhten Körpertemperatur.
Ihr EDSS erholte sich wieder, die Patientin berichtet 100 Tage nach CAR-T-Zellgabe von einer verbesserten Gehstrecke (700 m statt 400 m vor CAR-T-Zellgabe), was einem EDSS von 4.0 entspricht. Zudem verringerten sich die oligoklonalen Banden von 13 auf 6 (gemessen an Tag 14 nach Infusion). Die intrathekalen Immunglobuline gingen quantitativ zurück.
Im zweiten Fall bekam ein 36-jähriger Patient, der 2019 die Diagnose PPMS erhalten hatte, als Therapie Ocrelizumab (bis vier Monate vor CAR-T-Zellgabe). Seine Gehstrecke lag bei 10 m (mit Rollator).
Er vertrug die CAR-T-Zellinfusion gut, einzige unerwünschte Wirkung war eine Transaminasen-Erhöhung (Gabe von Ursodeoxycholsäure als Therapie). Sein EDSS blieb unverändert. Es gab keine Veränderungen bei den oligoklonalen Banden und bei den intrathekalen Immunglobulinen.
CAR-T-Zelltherapie bei MS: akzeptabel sicher
Laut den Studienautoren der im Fachjournal „Med“ veröffentlichten Fallberichte(„Med“: „CD19-targeted chimeric antigen receptor T cell therapy in two patients with multiple sclerosis“) zeigt die CAR-T-Zelltherapie bei beiden MS-Patienten ein „akzeptables Sicherheitsprofil“. Auch hätten sich die CAR-T-Zellen jeweils im Liquor („Nervenwasser“) angereichert – sogar in höherer Konzentration als im Blut (> 64-fach bei der Patientin, > 27-fach beim Patienten, jeweils an Tag 14 nach Behandlung).
Das unterstreiche den Nutzen von CAR-T-Zellen verglichen mit B-Zell-depletierenden Antikörpern (Ocrelizumab, Ofatumumab, Ublituximab), da die Antikörper dort nicht hingelangen und die schwelende Entzündung im ZNS damit nicht erreichen.
Nicht nur im Liquor, auch im Blut erreichten die CAR-T-Zellen bei der Patientin höhere Werte als beim Patienten mit PPMS, bei diesem waren – ungleich der Patientin – auch bei CAR-T-Zellgabe keine peripheren B-Zellen nachweisbar.
Dies werfe die Frage nach einem „möglicherweise erforderlichen Effektor-zu-Ziel-Verhältnis nach einer peripheren B-Zell-Depletion auf“, also, ob die CAR-T-Zellen drei bis vier Monate nach einer Ocrelizumab-Gabe überhaupt genügend B-Zellen finden, die sie eliminieren können, und so den MS-Verlauf positiv beeinflussen.
Bei Car-T-Zelltherapie: MS verschlechtert sich nicht
Positiv bewerten die Forschenden zudem, dass sich die MS bei beiden Patienten nicht verschlimmerte, denn die Ausbreitung pathogener Z-Zellen könne eine MS „theoretisch“ auch verschlechtern.
Eine neurologische Toxizität konnten sie bei beiden MS-Patienten nicht feststellen. Das sei „bemerkenswert“, da sich die CAR-T-Zellen im Liquor ja „erheblich“ ausgebreitet hätten.
Nach diesen akzeptablen Sicherheitsdaten und laborchemischen Hinweisen für eine effektive Entzündungskontrolle „brauchen wir Langzeitdaten und kontrollierte Studien, um die Wirksamkeit der Therapie auf die Entzündung und das Fortschreiten der MS zu untersuchen“, sagt Prof. Dr. Manuel Friese, Direktor des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose des UKE. Entsprechende Studien bereite sein Team im UKE aktuell vor.
Zur Erinnerung: CAR-T-Zelltherapie – so funktioniert’s
Aufgabe unseres Immunsystems ist es, nicht nur Erreger wie Bakterien und Viren zu erkennen und zu bekämpfen, sondern auch körpereigene Zellen, wenn diese entarten oder fehlgeleitet werden.
Nicht immer funktioniert diese Wächterfunktion jedoch tadellos, sonst gäbe es keine Krebs- oder Autoimmunerkrankungen. Um maligne, also bösartige Zellen zu eliminieren, muss eine T-Zelle diese zunächst erkennen und die Tumorzelle sodann zerstören.
Bei einer CAR-T-Zellbehandlung verschafft man körpereigenen T-Zellen diese Funktionen außerhalb des Körpers, wofür die T-Zellen etwas „bearbeitet“ werden: Zunächst werden dem Krebspatienten weiße Blutkörperchen (Leukozyten) entnommen, die T-Zellen daraus isoliert und ihre Erbsubstanz mit einem Gen verändert.
Dieses Gen baut man zunächst in ein inaktives Virus ein, das als Fähre das gewünschte zusätzliche Gen in die T-Zelle einschleust, wo es sodann die genetische Information der T-Zelle ergänzt. Das zusätzliche Gen trägt die Information für einen chimären Antigenrezeptor (CAR), welchen die T-Zelle anschließend produziert und in ihrer Oberfläche exprimiert.
Wie eine „Antenne“ erkennt dieser Rezeptor nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip bestimmte krebsspezifische Oberflächenproteine – oder im Falle bei MS fehlgeleitete Immunzellen – und bindet diese, was die T-Zelle zur Zerstörung der Krebs- beziehungsweise Immunzelle aktiviert.
Damit die T-Zelle die Zielzelle zerstören kann, benötigt sie, neben dem Antikörperfragment nach außen, noch eine oder mehrere Signaldomänen (je nach Generation des CAR-T-Zellprodukts). Diese leiten die zytotoxische Wirkung ein und führen zum Zelltod der gebundenen Zielzelle.
Bevor die veränderten und scharf gestellten T-Zellen zurück in den Körper des Patienten gelangen, werden diese noch vermehrt. Auch der Patient wird auf die neuen T-Zellen vorbereitet: Vor der eigentlichen Therapie werden die T-Zellen des Patienten zunächst mit einer Chemotherapie zerstört, sodass die über eine Infusion zurück in den Körper des Patienten gebrachten neuen CAR-T-Zellen optimale Bedingungen zur Vermehrung haben.