Ocrelizumab: Neues Arzneimittel bei Multipler Sklerose
Im März des vergangenen Jahres haben es die Vereinigten Staaten bereits vorgemacht, dann folgten im Juli und September Australien und die Schweiz: In diesen Ländern ist der Antikörper Ocrelizumab in Ocrevus® bei Multipler Sklerose schon 2017 zugelassen worden. Nun hat Roche dieses Ziel in der EU ebenfalls erreicht. Seit wenigen Tagen dürfen auch MS-Patienten in der EU mit Ocrevus® behandelt werden.
Erstes Arzneimittel bei primär progredienter MS
Ocrevus® enthält den Wirkstoff Ocrelizumab. Das Besondere: Der Antikörper ist für beide Formen der Multiplen Sklerose zugelassen – die schubförmige MS (RMS, Relapsing MS) und die primär progrediente MS (PPMS, Primary-Progressive MS). Der Begriff RMS umfasst beide MS-Unterformen mit einem schubförmigen Verlauf: RRMS, schubförmig remittierende MS, und rSPMS, sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben.
Mit dem humanisierten Antikörper betritt Roche therapeutisches Neuland und weckt insbesondere bei Patienten, die unter der weniger verbreiteten primär progredienten Form der Multiplen Sklerose leiden, Hoffnung: Ocrelizumab ist das erste zugelassene Arzneimittel gegen die primär progrediente Multiple Sklerose. Mit Ocrevus® steht somit erstmals eine spezielle Therapie für PPMS-Patienten zur Verfügung. PPMS galt bislang als nicht behandelbar.
Primär progrediente Multiple Sklerose verläuft schleichend
MS ist eine neurologische Erkrankung. Durch immunvermittelte chronische Entzündungen des Zentralnervensystems kommt es hier zu einer Demyeliniserung der Nervenstränge und in deren Folge zu fortschreitender Behinderung der Patienten. Die primär progrediente Form der Multiplen Sklerose verläuft im Gegensatz zur RMS nicht schubförmig. Die neurologischen Symptome entwickeln sich bei der PPMS schleichend. Diese Form der Multiplen Sklerose ist seltener als die schubförmige. Nur etwa zehn bis 15 Prozent der MS-Patienten leiden unter PPMS. Auch trifft die PPMS Männer und Frauen gleich häufig, wohingegen bei der schubförmigen MS Frauen im Schnitt dreimal häufiger erkranken als Männer. Auch beginnt die RRMS meist früher, im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Der Erkrankungsbeginn der primär progrediente Form liegt im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. In Deutschland sind etwa 120.000 Patienten von Multipler Sklerose betroffen. Weltweit leben 2,3 Millionen Menschen mit der Diagnose MS.
Wie wirkt Ocrelizumab?
Ocrelizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper. Er richtet sich gegen CD20, ein Protein auf der Oberfläche von B-Zellen. B-Zellen spielen eine wichtige Rolle im Krankheitsgeschehen der Multiplen Sklerose. Auf welchen genauen Wirkmechanismen der Effekt von Ocrelizumab beruht, ist allerdings noch nicht vollständig geklärt. Anscheinend ist die Reduktion der Anzahl und der Funktion der CD20-exprimierenden B-Zellen, sprich diese Immunmodulation, von wesentlicher Bedeutung.
Drei Studien liegen der Zulassung von Ocrelizumab zugrunde. In den beiden Phase III-Studien OPERA I und OPERA II reduzierte Ocrelizumab die Schubrate bei RRMS um 47 Prozent verglichen mit Interferon Beta-1a (Rebif®). Die ORATORIO-Studie untersuchte das Fortschreiten der Behinderung an 732 Patienten mit PPMS. Sie erhielten entweder Ocrelizumab oder Placebo. Bei den mit dem Antikörper behandelten Patienten verminderte sich das Risiko des Fortschreitens der klinischen Behinderung um 25 Prozent.
In allen drei Studien haben laut Roche die Patienten die Therapie mit Ocrevus® gut vertragen; die Verträglichkeit von Ocrevus® lag auf dem Niveau von Rebif® beziehungsweise Placebo. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählten Infusionsreaktionen und Infektionen der oberen Atemwege.
Patienten können Ocrevus® nicht selbst applizieren. Ocrelizumab muss vom Arzt verabreicht werden. Alle sechs Monate erhalten MS-Patienten eine Infusion mit 600 mg des Antikörpers. Die Startdosis wird in zwei Dosen zu je 300 mg aufgeteilt und in zweiwöchigem Abstand infundiert.
„Therapiedurchbruch“ bei PPMS mit Ocrelizumab
In den Vereinigten Staaten erhielt Ocrelizumab bereits 2016 „Breakthrough-Status” und wurde von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA als Therapiedurchbruch bewertet. Es folgte ein beschleunigtes Zulassungsverfahren – Priority Review –, das den schnellstmöglichen Marktzugang des neuen Arzneimittels in der Therapie der Multiplen Sklerose ermöglichte. Die Behörden senken in diesen Fällen die Zulassungsanforderungen, um die therapeutische Verfügbarkeit innovativer Arzneimittel zu beschleunigen. Die Pharmazeutischen Unternehmer müssen nachträglich allerdings Unterlagen und Studien einreichen, um dennoch die Sicherheit der Patienten zu gewähren. Um für Patienten in der EU die Zeit bis zur Zulassung von Ocrevus® zu überbrücken, hatte Roche im vergangenen Jahr ein Härtefallprogramm für PPMS-Patienten eingerichtet. Im Rahmen dessen konnten PPMS-Patienten, mangels therapeutischer Alternativen, bereits vor Zulassung mit Ocrelizumab behandelt werden.