Weniger MS-Schübe durch hochdosiertes Vitamin D?
Menschen, die in Bereichen des Äquators leben, erkranken seltener an Multipler Sklerose (MS) als Menschen in Ländern, in denen es aufgrund von weniger Sonneneinstrahlung zu einem möglichen Vitamin-D-Mangel kommt.
Dass hohe Spiegel an zirkulierendem Vitamin D das Risiko für MS verringern, legte bereits eine Studie, veröffentlicht 2006 im amerikanischen Ärzteblatt „JAMA“, nahe(„JAMA“: „Serum 25-hydroxyvitamin D levels and risk of multiple sclerosis“) . Doch verbessert eine gezielte Substitution – über einen bestehenden Vitamin-D-Mangel hinaus – ebenfalls die Prognose, und lassen sich damit MS-Schübe reduzieren?
Der Erforschung dieser Frage stellten sich Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten. Sie konnten nun ihre Ergebnisse im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichen(„The Lancet“: „High-dose vitamin D3 supplementation in relapsing-remitting multiple sclerosis: a randomised clinical trial“) .
Zur Erinnerung: Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn, das Rückenmark und die Nervenfasern betrifft. Weltweit leben rund 2,8 Millionen Menschen mit der Autoimmunerkrankung, bei der das eigene Immunsystem die Ummantelung (Myelinscheiden) der Nervenbahnen (Axone) angreift und beschädigt.
Botschaften, die über die Nerven transportiert werden, kommen in der Folge immer langsamer und ohne medizinische Behandlung gar nicht mehr an. Diese Schädigungen äußern sich dann häufig in Symptomen wie Sehstörungen, Taubheitsgefühlen und Lähmungserscheinungen. Doch gibt es nicht „das eine“ typische Krankheitsbild. Symptome und Anzeichen können komplett unterschiedlich und für Außenstehende nicht direkt zu erkennen sein. MS wird daher auch als die Krankheit der 1.000 Gesichter bezeichnet.
Häufig sind Koordinationsprobleme, Sehstörungen oder Lähmungen. Aber auch Gefühlsstörungen der Haut, die sich als Kribbeln, Missempfindungen oder Taubheitsgefühl äußern, sind möglich. Viele berichten von „Fatigue“, einem Zustand massiver, oftmals unerklärlicher und vor allem wiederkehrender Erschöpfung.
Gabe von hochdosiertem Vitamin D zur MS-Therapie
Die Wissenschaftler hatten in der Studie „Vitamin D to Ameliorate MS“ (VIDAMS) 172 Menschen mit aktiver schubförmiger MS (RRMS) in zwei Gruppen aufgeteilt: Diese erhielten entweder eine tägliche Vitamin-D-Dosis von 600 IE (LDVD: low Dose Vitamin D) oder 5.000 IE (HDVD: high Dose Vitamin D) jeweils zusätzlich zu ihrer krankheitsmodifizierenden Behandlung mit 20 mg Glatirameracetat (Teva, Originalprodukt Copaxone) pro Tag.
Teilnehmen durften MS-Patienten nur, wenn ihre Erkrankung noch nicht allzu weit fortgeschritten war. Das bedeutet, ihr EDSS (Expanded Disability Status Scale) – ein Maß für die Behinderung der Patienten – durfte höchstens bei vier liegen und die Patienten können ohne Gehhilfe und Rast mindestens 500 m laufen und für etwa zwölf Stunden täglich aktiv sein.
Zur Erinnerung: Was ist der EDSS?
Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit Multipler Sklerose. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5er-Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen Funktionellen Systemen (FS) des Körpers:
- Pyramidenbahn, zum Beispiel Lähmungen
- Kleinhirn, zum Beispiel Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
- Hirnstamm, zum Beispiel Sprach- und/oder Schluckstörungen
- Sensorium, zum Beispiel verminderter Berührungssinn
- Blasen- und Mastdarmfunktion, zum Beispiel Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
- Sehfunktion, zum Beispiel eingeschränktes Gesichtsfeld
- Zerebrale Funktionen, zum Beispiel Wesensveränderung, Demenz
Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS null (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS zehn (Tod durch MS).
Die Wissenschaftler hatten die Patienten über einen Zeitraum von 96 Wochen, also knapp zwei Jahre, beobachtet. Als bestätigter Schub galt, wenn sich der EDSS der Patienten in diesem Zeitraum um 0,5 Punkte verschlechterte.
Zudem interessierten sich die Wissenschaftler für die Verträglichkeit der Behandlung und ob höhere Vitamin-D-Dosen höhere Calcium-Spiegel und damit die Gefahr einer Hypercalcämie bewirken.
Im schlimmsten Fall kann eine sogenannte Hypercalcämie zu Nierenschäden, Herzrhythmusstörungen und Tod führen. Als fettlösliches Vitamin speichert der Körper Vitamin D, sodass es bei Vitamin D dem Robert Koch-Institut zufolge auch zu einer „schleichenden Überdosierung“ kommen kann.
Vitamin-D-Gabe bietet keinen Vorteil bei MS
Das Positive: MS-Patienten mit der höheren Vitamin-D-Dosis (5.000 IE) erlitten nicht mehr Nebenwirkungen als Menschen mit MS, die lediglich 600 IE pro Tag eingenommen hatten. Es kam zu keinen Hypercalcämien.
Zwar entwickelten drei der Teilnehmenden (einer in der LDVD- und zwei in der HDVD-Gruppe) Nierensteine, jedoch ließen sich lediglich zwei Fälle möglicherweise auf das Studienmedikament zurückführen.
Keine Unterschiede konnten die Wissenschaftler auch bei der Anzahl der Schübe feststellen: Insgesamt kam es zu 24 Schüben in der 600-IE-Vitamin-D-Gruppe und zu 28 Schüben in der 5.000-IE-Vitamin-D-Studiengruppe.
Die Wissenschaftler kommen damit zu dem Ergebnis, dass in der VIDAMS-Studie „eine Hochdosis-Vitamin-D-Gabe als Zusatz zu Glatirameracetat im Vergleich zu einer Niedrigdosis-Vitamin-D-Gabe die Krankheitsaktivität bei etablierter RRMS“ nicht verringere.
Allerdings überlegen die Wissenschaftler auch, ob Vitamin D mit täglich 5.000 IE womöglich zu gering dosiert war: „Wir können nicht ausschließen, dass ein anderer 25(OH)D-Serumspiegel erforderlich ist, um einen Behandlungseffekt zu erzielen, oder dass nur Untergruppen von MS-Patienten auf eine Hochdosis-Vitamin-D-Supplementierung ansprechen.“ Weitere Analysen seien nötig – auch von früheren Daten –, um diese Frage weiter zu untersuchen.
Gabe von hochdosiertem Vitamin D wird weiter untersucht
In der Tat befürworten manche Ärzte und Patienten eine Hochdosis-Vitamin-D-Gabe bei Multipler Sklerose („Coimbra-Protokoll“). Dabei erhalten die Patienten jedoch individuell weitaus höhere Dosen an Vitamin D – etwa 1.000 IE pro Kilogramm Körpergewicht – als in der VIDAMS-Studie.
Eine dreijährige Studie in Zusammenarbeit mit der Berliner Charité soll nun die Sicherheit (und auch die Wirksamkeit beziehungsweise Nichtwirksamkeit) dieser Hochdosen dokumentieren und soll dafür Patienten mit Coimbra-Protokoll mit ähnlichen Patientenfällen aus dem laufenden Studienregister der Charité vergleichen.