Gefahr von Überdosierung: Vorsicht bei hochdosierten Vitamin-D-Tropfen
Eines vorweg: Es soll nicht der Eindruck entstehen, die Vitamin-D-Gabe bei Säuglingen sei nicht angebracht oder grundsätzlich gefährlich. Immerhin gehört Vitamin D zu den „Top-12-Kinderarzneistoffen“, die laut TK-Arzneimittelreport am häufigsten von Kinder- und Jugendmedizinern verordnet werden. So bekam ein Säugling in einem aktuellen Fallbericht der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zur Rachitisprophylaxe richtigerweise auch „anfänglich die ärztlich verordnete Vitamin-D3-Prophylaxe mit 500 I.E./d“. Allerdings: „Seit etwa fünf Monaten war auf Anraten von Freunden jedoch auf ein hochkonzentriertes Vitamin-D-haltiges Nahrungsergänzungsmittel aus dem Internet umgestellt worden, und der Junge hatte täglich 40.000 I.E. erhalten.“
Es ist offensichtlich, dass ein solcher Fehler beim Erwerb über eine öffentliche Apotheke hätte vermieden werden können. Denn normalerweise ist Vitamin D in der Dosierung von 20.000 I.E. verschreibungspflichtig.
Nahrungsergänzungsmittel oder Arzneimittel?
Bereits 2016 wurde berichtet, dass Apotheken bei der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) immer wieder Produkte beanstanden, „die sich nach EU-Recht als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt befinden, jedoch als Arzneimittel aufgefasst werden können“. Denn ab 1.000 I.E. ist Vitamin D in Arzneimitteln verschreibungspflichtig, in Nahrungsergänzungsmitteln jedoch nicht.
Anlass der Berichterstattung war damals eine Stellungnahme zu Vitamin D einer Expertenkommission der zuständigen Bundesoberbehörden, Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die sich mit der Abgrenzung von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) befasst.
Sie kam zu dem Schluss: „Bis zu einer Tagesdosis von 20 μg Vitamin D kann im Kontext der Ernährung/Nahrungsergänzung noch von einer ernährungsspezifischen beziehungsweise einer physiologischen Wirkung ausgegangen werden […].“ Das entspricht 800 I.E., und diese Einschätzung gelte auch nur, wenn alle lebensmittelrechtlichen Anforderungen erfüllt sind, die empfohlenen Anwendungsgebiete also nicht eine Einstufung als Arzneimittel rechtfertigen.
Vitamin-D-Gehalt in NEM überschreitet oft Tagesdosis
Doch NEM werden nicht zugelassen, in der Folge müssen die regional zuständigen Behörden jedes Präparat – nachdem es bereits auf den Markt gelangt ist – einzeln beurteilen. Und so sind bis heute Vitamin-D-NEM im Handel, die eine Dosierung von 800 I.E. bei weitem überschreiten. Was ist nun im aktuellen Fall geschehen?
Bei Vitamin-D-Überdosierung: Gefahr einer Hyperkalzämie
Der sieben Monate alte Säugling war „wegen Gewichtsabnahme (-7% in drei Wochen), Dehydratation und Vigilanzminderung (Minderung der Wachheit) auf die Intensivstation aufgenommen“ worden. Das Gespräch mit den Eltern erbrachte die Information über das hochdosierte verabreichte NEM: „Täglich erhielt der Säugling etwa 40 Tropfen Vitamin D3 (circa 40.000 I.E. entsprechend 1000 µg).“ Die Konzentration des Vitamins im Serum sei mit über 600 µg/l (Referenzbereich 20–70 µg/l) extrem erhöht gewesen.
Schließlich wurde die Diagnose einer ausgeprägten chronischen Vitamin-D-Intoxikation gestellt. Zudem wurde eine Hyperkalzämie festgestellt (erhöhter Calcium-Spiegel im Blutserum) und es kam zur Ablagerung von Calcium-Salzen in der Niere (Nephrokalzinose). Selbst drei Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus soll die Konzentration des Vitamins noch bei 278 µg/ml gelegen haben, was durch die sehr lange Halbwertszeit zu begründen sei.
Dosierungsempfehlungen beachten!
Laut Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) veranschaulicht der aktuelle Fallbericht, dass „auch vermeintlich harmlose, freiverkäufliche Vitamin-D3-haltige Nahrungsergänzungsmittel“ Risiken bergen können. Es sollten immer die Dosierungsempfehlungen bzw. die altersspezifischen sicheren Zufuhrmengen der European Food Safety Agency (EFSA) eingehalten werden, betont die AkdÄ. „Hochkonzentrierte Flüssigzubereitungen von Vitamin D3 sollten aus Sicht der AkdÄ wegen der Gefahr von Überdosierungen insbesondere bei Kindern vermieden werden.“
„Eine langfristige Überdosierung von Vitamin D3 kann zu Hyperkalzämie führen und potenziell lebensbedrohlich sein. Kalzium-Ablagerung in Gefäßen und Geweben, insbesondere der Niere, kann die Folge sein. Die Symptome können unspezifisch sein (z. B. gastrointestinale Symptome, Dehydratation, Kopf-, Muskel- und Gelenkschmerzen, Bewusstseins- und Herzrhythmusstörungen).“
Forderung von Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe
Erst im Februar 2021 hatte die AkdÄ beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Einnahme von Vitamin D (auch bei Erwachsenen) eine eindeutige Indikation braucht. Im August 2020 hatte zudem das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) erklärt, dass hochdosiertes Vitamin D in Nahrungsergänzungsmitteln „unnötig“ sei. Und schon 2017 hatte die AkdÄ vor „Nierenversagen durch vermeintlich harmlose Vitamin-D-Präparate“ gewarnt.
Auch jetzt erklärt die AkdÄ wieder: „Um versehentliche Überdosierungen durch hochdosierte Nahrungsergänzungsmittel zu vermeiden, wären Höchstmengen für Vitamin D in Nahrungsergänzungsmitteln sinnvoll.“ Doch während der Finger schon seit Jahren in die Wunde gelegt wird, geht auf Ebene der Politik alles ein wenig langsamer. Zwar hieß es im April 2020: „Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln sowie Lebensmitteln mit Vitamin-Zusatz sollten aus Sicht der Bundesregierung EU-weit geregelt werden“. Doch bis heute gibt es solche gesetzlich bindenden Höchstregeln nicht.