Teil 19: Spirulina und AFA – die „blauen Wunder“
Spirulina – ein Bakterium
Bei der auch als Blaualge bekannten Mikroalge Spirulina handelt es sich um Cyanobakterien. Diese siedeln in alkalischen, mineralstoffreichen Salzseen oder in flachen salzhaltigen Gewässern, hauptsächlich in subtropischen bis tropischen Regionen. Sie kommen aber auch im Süßwasser vor. Das Bakterium bildet mehrzellige fadenförmige Proteinstrukturen aus, die sich deckenartig auf dem Wasser ablagern. Weil diese Ablagerungen rein äußerlich wie Algen aussehen, werden sie trotz ihres bakteriellen Ursprungs traditionell noch immer zu den Algen gezählt. Für die gewerbliche Nutzung produziert man Spirulina heute in Aquakulturen.
In Indien oder im afrikanischen Burkina Faso verwenden die Menschen Spirulina schon immer als Nahrungsmittel. Anders als die Mikroalge Chlorella hat Spirulina keine Zellulosewände. Daraus wird abgeleitet, dass die Inhaltsstoffe der Zelle besonders gut bioverfügbar sind. In getrockneter Form besteht Spirulina zu 60 Prozent aus Protein und punktet mit einem hohen Gehalt an Eisen, Magnesium, Selen, Betacarotin, Folaten und Vitamin B12, das allerdings in einer für den Menschen nur zu 80 Prozent verwertbaren Form vorliegt.
Zweifelhafte Versprechen
In Europa kam Spirulina vor einigen Jahrzehnten als Mittel der Alternativmedizin auf den Markt, anfangs vor allem als „Wundermittel“ zum Abnehmen. Inzwischen gibt es in Gesundheits- und Online-Shops eine riesige Palette an Spirulina-Nahrungsergänzungsmitteln in Form von Tabletten, Presslingen, Pulvern oder Flocken. Das Marketing ist sehr kreativ, was die Produktnamen betrifft: So findet man „Magic Blue“, „Hawaiin Spirulina“ oder „Earthrise Spirulina Powder“, alles auch in den Varianten vegan und koscher, Natur, Bio und pflanzlich sowieso. Ein Bakterium als pflanzlich zu bezeichnen, ist eigenwillig.
Auch wenn die Hersteller dieser Präparate nicht mit Gesundheitsversprechen werben dürfen, findet man solche in Hülle und Fülle – meist als persönliche Erfahrungsberichte in Internetforen oder als redaktionelle Beiträge von Gesundheitsmagazinen. So soll Spirulina den Alterungsprozess verlangsamen, das Immunsystem stärken, vor Viren und Krebs schützen und natürlich generell „entgiften“. Es soll weiterhin allergische Reaktionen abmildern, Blutfette und Blutdruck senken, sich positiv auf den Blutzucker auswirken und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen verringern.
Protein ja, aber in der richtigen Menge
Sofern es überhaupt Studien gibt, so handelt es sich um Labor- bzw. Tierversuche. Wissenschaftlich belastbare Studien, die gesundheitsfördernde Effekte von Spirulina beim Menschen beweisen, liegen nicht vor. Der in Werbeaussagen immer wieder betonte hohe Proteingehalt relativiert sich ganz schnell, wenn man die empfohlene Tagesdosis von zwei bis vier Gramm einer Spirulina-Zubereitung ins Verhältnis setzt zu der täglich benötigten Proteinmenge. Diese beträgt 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht bei Erwachsenen bis 65 Jahren, also 56 Gramm bei einem Körpergewicht von 70 Kilogramm.
Gut zu wissen: Nicht geeignet bei Phenylketonurie
Spirulina ist nicht geeignet für Personen mit Phenylketonurie, da die Mikroalge Phenylalanin enthält. Auch Allergien auf Spirulina-Produkte kommen vor. Außerdem bindet Spirulina Eisen, sodass es möglicherweise zu einer Eisenunterversorgung kommen kann, wenn man es mit dem Verzehr übertreibt.
Mikroalgen aus Aquakultur
Wer Spirulina-Zubereitungen kaufen möchte, die übrigens auch als „natürliche blaue Lebensmittelfarbe“ angeboten werden, sollte wissen: Es gibt in der EU keine Qualitätsstandards und auch keine Produktionsvorschriften für Cyanobakterien und Mikroalgen. Der Ökoverband Naturland hat seine eigenen Richtlinien für die ökologische Aquakultur von Mikroalgen (Chlorella und Spirulina) entwickelt, die für eine verlässliche Qualität sorgen und beim Verbraucher durch das Naturland-Zeichen um Vertrauen werben.
Vor zu viel Jod braucht man sich bei in Süßwasser kultivierten Mikroalgen nicht zu fürchten, es werden gegebenenfalls nur kleine Mengen an Jodsalz zugesetzt.
AFA-Alge – „blaues Wunder“ gegen ADHS?
Die Grüne Spanalge, nach ihrem lateinische Namen Aphanizomenon flos-aquae auch als AFA-Alge bekannt, ist wie Spirulina eine Cyanobakterien-Art. Sie wird auch als „Uralge“, „Blaues Wunder“, „Blaugrün“ oder „Grünes Manna“ bezeichnet. Anders als Chlorella und Spirulina wird die AFA-Alge nicht in Kulturen gezüchtet, sondern wild aus einem natürlichen Süßwassersee, dem Klamath-See in Oregon, USA, geerntet. Von dort kommen fast alle der im Handel angebotenen AFA-Algen. Sie werden vom Wasser abgefischt, gewaschen, gefiltert und für die Weiterverarbeitung als Nahrungsergänzungsmittel sprüh- oder gefriergetrocknet. Als Pulver oder Tabletten werden AFA-Algen überwiegend in Internet-Shops vertrieben. Dabei ranken sich zahlreiche Gesundheits- und Heilversprechen um die Mikroalge. Am meisten beworben wird eine angebliche Wirkung als „alternatives Heilmittel“ bei neurologischen Erkrankungen, bei Alzheimer sowie bei Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Auch wird es als das „vitalstoffreichste natürliche Lebensmittel“, als „Lebensmittel der Superlative“ oder als „Brainfood“ beschrieben.
AFA-Algen – Fakten, kritisch betrachtet
Getrocknete AFA-Algen bestehen zu 70 Prozent aus Protein, zu 12 bis 20 Prozent aus Kohlenhydraten und zu 2 bis 6 Prozent aus Fett. Weiterhin enthalten sie Beta-Carotin, B-Vitamine und Vitamin E sowie Mineralstoffe und Chlorophyll. Betont wird gerne der hohe Gehalt an essenziellen Fettsäuren sowie Gamma-Linolensäure (GLS), wobei der Hinweis „fast so viel GLS wie Muttermilch“ vermutlich als besonderes Qualitätsmerkmal gilt.
Achtung, Schadstoffe
Keines der vielen Gesundheitsversprechen, die sich im Internet tummeln, ist wissenschaftlich belegt. In der EU sind keine Health-Claims für AFA-Algen zugelassen und auch keine beantragt worden. Es finden sich auch deutliche Warnhinweise im Internet, dass AFA-Algen kein Heilmittel für hyperaktive Kinder sind. Gerade die Gabe an Kinder wird besonders kritisch gesehen, weil AFA-Algen lebertoxische Microcystine produzieren können, auf die besonders Heranwachsende empfindlich reagieren. Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz rät daher aus Sicherheitsgründen ab, Kindern AFA-Algenprodukte zu geben. Auch Schwangere und Stillende sollten sich zurückhalten. Allerdings haben die Hersteller das Problem inzwischen erkannt und lassen ihre Produkte auf Microcystine und auch Schwermetallverunreinigungen untersuchen. Auf den Verkaufsverpackungen findet man zum Beispiel den Hinweis „Bio-Qualität“, was ein wenig schwer zu verstehen ist, wenn die Algen gleichzeitig, wie angegeben, aus „Wildsammlung“ stammen. Ein anderes ungelöstes Problem von AFA-Algen als „typischem Naturprodukt“ sind mögliche Verunreinigungen mit Wasserflöhen oder Vogelkot.
Warnhinweise
Genauso wie im Internet Wunderwirkungen über AFA-Algen kursieren, sind auch eine Reihe von Warnhinweisen zu finden. So berichten Patienten, die an Autoimmunerkrankungen wie beispielsweise Lupus, Multipler Sklerose oder rheumatoider Arthritis leiden oder Blutgerinnungshemmer einnehmen, dass AFA-Algen unerwünschte Wechselwirkungen mit ihrer ärztlich verordneten Medikation auslösen bzw. sich ihre Beschwerden verschlimmern. Die Verbraucherzentralen weisen darauf hin, dass entsprechende Patienten vor der Einnahme von AFA-Produkten unbedingt ihren Arzt und Apotheker fragen sollen, ob sich diese „Naturheilmittel“ mit ihren Arzneimitteln vertragen. Die Aussage, die die Apotheke in einem solchen Fall treffen sollte, dürfte eindeutig sein.
Auf einen Blick
- Sowohl Spirulina als auch AFA-Algen sind Cyanobakterien.
- Auch wenn beide ein für den Menschen günstiges Proteinmuster bieten: Der Verzehr im Bereich von wenigen Gramm bietet keinen Nutzen.
- Das enthaltene Vitamin B12 ist für den Menschen nicht voll verwertbar.
- Weder für Spirulina noch für AFA-Algen ist ein gesundheitlicher Nutzen für den Menschen wissenschaftlich belegt. Gesundheitsversprechen sind nicht erlaubt.
- Produkte aus „Wildsammlung“ können nicht gleichzeitig „Bio-Qualität“ haben. Für die Produktion in Aquakulturen gibt es in der EU keine Qualitätsstandards. Öko-Verbände haben teilweise eigene Richtlinien für die Produktion.