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Zu viel Niacin fördert Herz-Kreis­lauf-Erkrankungen

Mann fasst sich mit der Hand an die Brust
Zu hohe Dosen von Niacin können sich negativ auf die Gesundheit auswirken. Enthalten ist das Vitamin B3 vor allem in tierischen Lebensmitteln wie Fleisch oder Fisch. | Bild: interstid / AdobeStock

Pellagra ist eine grausame Erkrankung, die etwa der russische Literatur-Nobelpreisträger und Systemkritiker Alexander Solschenizyn in seinen Erinnerungen an seine Zeit im sowjetischen Gulag plastisch schildert. Schwerste Hautentzündungen, massive Durchfälle und schließlich Demenz und „Verlust des Verstandes“ sind die Symptome, schließlich folgt der Tod. 

Die Ursache ist ein Vitaminmangel – bei den Gulag-Insassen ausgelöst durch die einseitige Ernährung mit Buchweizengrütze.

Was ist Niacin?

Buchweizengrütze enthält für den Menschen in nicht verwertbarer Form Vitamin B3, auch bekannt als Niacin. Der Begriff Niacin ist dabei ein Sammelbegriff und umfasst Nicotinsäure, Nicotinsäureamid und davon abgeleitete Verbindungen. Alle sind zumindest teilweise essenziell für den Menschen. Zwar bildet der Körper Nicotinsäure auch selbst aus Tryptophan, der Hauptanteil stammt aber aus der Nahrung.

In Europa und den wohlhabenderen Ländern des globalen Nordens  ist Pellagra heutzutage weitgehend unbekannt – abgesehen von Alkoholismus, Magersucht, chronischem Durchfall, Leberzirrhose sowie der Erbkrankheit Hartnup-Syndrom, die auch hier zu dieser Avitaminose führen können.  

Überversorgung mit Niacin in Europa und den USA

Vielmehr gibt es in Europa und besonders in den USA sogar eine Überversorgung mit Niacin in der Nahrung – und das kann Folgen haben über bislang bereits bekannte Nebenwirkungen hinaus, wie Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum herausgefunden habenNature Medicine: "A terminal metabolite of niacin promotes vascular inflammation and contributes to cardiovascular disease risk" .  

Besonders die USA haben ein ganz besonderes Verhältnis zu Niacin. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, während der großen Depression, gab es viele Pellagra-Erkrankungen und darin begründete Todesfälle unter der plötzlich verarmten Bevölkerung der Vereinigten Staaten. 

Ursache war die einseitige Ernährung mit dem günstigen Lebensmittel Mais. Dieser enthält Niacin nur in der für Menschen nicht verwertbaren Form Niacytin.  

Als Konsequenz dieses Traumas wird heute in den USA allen Formen von Mehl und Getreideprodukten immer noch Vitamin B3 zugesetzt. Darüber hinaus gibt es eine lange Geschichte von rezeptfreien teils hochdosierten Niacin-Produkten, die als Nahrungsergänzung unter anderem zur vermeintlichen Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch von Ärzten empfohlen wurden.

Niacin senkt Cholesterinspiegel

Bereits 2019 kamen etwa britische Forschende in einer Meta-AnalyseJAMA Network: "Assessment of the Role of Niacin in Managing Cardiovascular Disease Outcomes"  zu dem Schluss, dass Niacin keinen evidenten Effekt zur Vermeidung kardiovaskulärer Erkrankungen hat. Und das obwohl es einige Studie gibt, die zeigen, dass Vitamin B3 den Cholesterinspiegel zu senken vermag.  

Die deutschen Forschenden von der Ruhr-Universität Bochum unter anderem um Professor Arash Haghikia – jetzt von der Uniklinik der Ruhr-Uni, vormals zu dem Thema an der Charité forschend – haben mit ihrer in Nature MedicineNature Medicine: "A terminal metabolite of niacin promotes vascular inflammation and contributes to cardiovascular disease risk"  veröffentlichten Arbeit nun wahrscheinlich das fehlende Puzzlestück zu diesen paradoxen Ergebnissen gefunden. 

Mit einer Blutanalyse bei 1.162 stabilen Herzpatienten wollten sie herausfinden, welche Faktoren auf molekularer Basis dazu beitrugen, dass die Betroffenen Herz-Kreislauf-Probleme entwickelten – selbst, wenn sie alle leitliniengerechten Interventionen erhielten.

Stoffwechselprodukte von Niacin erhöhen kardiovaskuläres Risiko

Die Forschenden untersuchten dabei das Metabolom aus dem Nüchternplasma der Untersuchungskohorte auf Unterschiede zu Menschen ohne Herz-Kreislauf-Probleme. Auffällig waren dabei zwei bei den Betroffenen häufig gefundene Moleküle:

  • N1-Methyl-2-Pyridon-5-Carboxamid (2PY) und
  • N1-Methyl-4-Pyridon-3-Carboxamid (4PY).

Beide sind Stoffwechselendprodukte von überschüssigem Niacin.  

Als die Forschenden in zwei weiteren Vergleichskohorten (eine US-Kohorte mit 2.331 Personen und eine Europäische mit 832 Personen) nach Zusammenhängen zwischen erhöhten Leveln von 2PY und 4PY mit einem erhöhten Risiko für schwerwiegende unerwünschte Herz-Kreislauf-Ereignisse (major adverse cardiovascular events, kurz: MACE) suchten, fanden sie einen entsprechenden Zusammenhang. 

Demnach besteht ein 1,64-fach bzw. 2,02-fach erhöhtes Risiko (US- bzw. europäische Kohorte), innerhalb von drei Jahren ein MACE zu erleiden bei einem hohen 2PY-Level, und ein 1,89-fach bzw. 1,99-fach höheres bei einem höheren 4PY-Level.

Niacin-Abbauprodukte lösen Entzündungen aus

Es fand sich bei näherer Untersuchung ebenfalls ein Zusammenhang mit einer höheren Rate des löslichen vaskulären Adhäsions-Moleküls 1 (sVCAM-1). Dies gilt unter anderem als Marker für Entzündungen in Gefäßen und am Herzmuskel. 

„Die Niacin-Abbauprodukte steigern das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen über einen Entzündungsmechanismus“, erklärt Haghikia in einer MitteilungRUB: "Zu viel Niacin erhöht das Risiko für Herz- und Gefäßkrankheiten "  der Ruhr-Uni. Dabei spielen Entzündungen der Gefäße, ausgelöst durch 2PY und 4PY, eine Rolle, wie die Forschenden auch im Mausmodell zeigen konnten.

„Paradoxerweise kann Niacin den Cholesterinspiegel senken und wurde in der Vergangenheit als Cholesterinsenker in klinischen Studien getestet, führte aber dadurch nicht wie zu erwarten zu einer Senkung des Risikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Zusammenhänge sind also komplex, und unsere Erkenntnisse passen gut zu diesem Paradox“, sagt Haghikia.

DGE-Empfehlung: Zufuhr von 15 mg Niacin pro Tag

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt eine Menge von lediglich 15 Milligramm Niacin täglich in der Nahrung – ein Wert, der in der Regel bereits mit der üblichen durchschnittlichen Ernährung überschritten wird. 

Neben den nun gefundenen Wirkungen auf das Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko sind etliche weitere Nebenwirkungen überhöhter Niacin-Aufnahme etwa durch Nahrungsergänzungsmittel bekannt – vom Flush (Hautrötungen in Gesicht, am Nacken und an den Armen, Hitzegefühl, Nesselsucht mit stark juckenden Quaddeln und Hautjucken) bis hin zu Übelkeit, Erbrechen oder auch Leberschäden. 

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnte beispielsweise bereits 2012 in einer Stellungnahme vor Produkten mit hohen Niacin-Dosen. Quellen:
- Ferrell, M. et al.; A terminal metabolite of niacin promotes vascular inflammation and contributes to cardiovascular disease risk; Nature Medicine volume 30, pages424–434 (2024) https://www.nature.com/articles/s41591-023-02793-8
- D’Andrea, E. et al.; Assessment of the Role of Niacin in Managing Cardiovascular Disease Outcomes; A Systematic Review and Meta-analysis; JAMA Netw Open. 2019;2(4):e192224. doi:10.1001/jamanetworkopen.2019.2224
- Drießen, M.; Zu viel Niacin erhöht das Risiko für Herz- und Gefäßkrankheiten; Pressemitteilung Ruhr-Universität Bochum; 1. März 2024; https://news.rub.de/presseinformationen/wissenschaft/2024-03-01-medizin-zu-viel-niacin-erhoeht-das-risiko-fuer-herz-und-gefaesskrankheiten
- N.N.; Niacin; Deutsche Gesellschaft für Ernährung; https://www.dge.de/gesunde-ernaehrung/faq/niacin/
- N.N.; Die Einnahme von Nicotinsäure in überhöhter Dosierung kann die Gesundheit schädigen; Stellungnahme Nr. 018/2012 des BfR vom 06. Februar 2012; https://www.bfr.bund.de/cm/343/die-einnahme-von-nicotinsaeure-in-ueberhoehter-dosierung-kann-die-gesundheit-schaedigen.pdf