Gummibärchen und Co.: Melatonin für Kinder: Leitlinie für 2025 geplant
In aller Regel findet man auf Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) einen Hinweis, dass diese nicht für Kinder geeignet sind. Doch wie erklärt man das den Kindern, wenn die NEM so lecker wie Gummibärchen aussehen? Und wie erklärt man das vor allem den Eltern, die in den sozialen Medien falsche oder gefährliche Informationen über Melatonin und Schlafstörungen bei Kindern erreichen?
Da „Melatonin in der Praxis sehr oft eingesetzt wird, auch von Laien, soll KinderärztInnen, Kinder- und JugendpsychiaterInnen und SchlafmedizinerInnen“ künftig eine kritische evidenzbasierte Leitlinie zur Verfügung stehen. Das kann man auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur Anmeldung der „S2e-Leitlinie Indikationen für Melatonin als schlafförderndes Mittel bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter“ nachlesen. Die Fertigstellung ist für Ende März 2025 geplant.
Grundsätzlich soll mit der Leitlinie „für zurückhaltendes und differenziertes gut begründbares Verordnungsverhalten“ motiviert werden. So sollen potenzielle langfristige Nebenwirkungen „wie z. B. Beeinflussung des Pubertätseintritts“ vermieden werden.
Zur Erinnerung: Was ist Melatonin?
Melatonin ist ein körpereigenes Hormon, das den Schlaf-wach-Rhythmus steuert und somit unsere innere Uhr – den zirkadianen Rhythmus. Hauptsächlich wird das Hormon in der Zirbeldrüse – einem Teil des Zwischenhirns – produziert, und zwar dann, wenn es dunkel ist. Durch den Anstieg des Schlafhormons sinkt die Körpertemperatur und wir werden müde.
Laut Zulassung wird Melatonin in Deutschland zur kurzzeitigen Anwendung bei Schlafstörungen für Kinder und Jugendliche zwischen 2 und 18 Jahren empfohlen. Allerdings ausschließlich für Kinder mit neuropsychiatrischen Erkrankungen wie einer Autismus-Spektrum-Störung und erst dann, wenn Schlafhygiene-Maßnahmen nicht zum erwünschten Erfolg führen. /vs/ck
Melatonin für Kinder: Abbauwege und Konzentrationsschwankungen
Die Koordination der Leitlinie hat Prof. Dr. med. Ekkehart Paditz übernommen. Dieser hat jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung (DGSM) in Berlin die Leitlinie vorgestellt wurde.
Ganz allgemein rät er davon ab, den eigenen Kindern ohne ärztliche Absprache ein melatoninhaltiges Nahrungsergänzungsmittel zu geben. Bislang wisse man noch zu wenig über die Abbauwege von Melatonin bei Säuglingen und kleinen Kindern, sagt Paditz.
Sicher sei, dass der Melatonin-Stoffwechsel bei ihnen langsamer laufe. Außerdem gebe es bei den in Studien geprüften Nahrungsergänzungsmitteln erhebliche Konzentrationsschwankungen. „Es wäre fatal, wenn Eltern Geld für irgendwelche Tütchen ausgeben, die nicht über den Rezeptblock des Arztes oder über die Apotheke kommen.“
Beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) wurden seit 2011 mehr als 700 melatoninhaltige Erzeugnisse angezeigt, wie ein Sprecher auf Anfrage mitteilte. Das bedeute aber nicht, dass jedes der Produkte auch auf den Markt gebracht worden sei.
Leitlinie soll für mehr Klarheit sorgen
Wie es auf dem Internetauftritt der AWMF heißt, soll die neue Leitlinie künftig darstellen, „bei welchen Indikationen und Voraussetzungen Evidenzen für die Gabe von Melatonin nachweisbar sind sowie welche Dosierungen und Applikationszeiten auf der Grundlage“ placebokontrollierter randomisierter Studien und pharmakokinetischer Daten empfohlen werden können.
NEM mit Melatonin nur für bestimmte Kinder
In Deutschland gibt es neben NEM mit Slenyto® auch ein Arzneimittel auf Basis von Melatonin, das aber nur in bestimmten Fällen indiziert ist: Bei der „Behandlung von Schlafstörungen (Insomnie) bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2–18 Jahren mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und/oder Smith-Magenis-Syndrom, wenn Schlafhygienemaßnahmen unzureichend waren.“ Laut Fachinformation beträgt die empfohlene Anfangsdosis 2 mg.
Paditz zufolge sollte die Dosis generell so gering wie möglich sein. Je nach Alter empfiehlt er, vor dem Zubettgehen zwischen 0,25 und 0,5 Milligramm des Melatonin-Medikaments einzunehmen. Allerdings handelt es sich bei Slenyto® um Retardtabletten, die nicht dosisgleich teilbar sind.
Laut Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, kommt das Melatonin als Arzneimittel in der Praxis nur selten zum Einsatz. Behandlungsbedürftige Schlafstörungen würden vor allem bei schwer chronisch kranken Kindern mit geistiger Behinderung vorkommen, die in einem jungen jugendlichen Alter Einschlafschwierigkeiten haben.
Wenn Kinder unter ernstzunehmenden Schlafstörungen litten, sollten Eltern sich nicht auf frei käufliche Mittelchen verlassen, meint Paditz. „Eltern gehen damit ein ziemliches Risiko ein, dass möglicherweise schwerwiegende Krankheiten übersehen werden.“
Melatonin als Wundermittel – Aufklärung in Apotheken
Mit Titeln wie „Wie du dein Kind in unter 5 Minuten zum Schlafen bringst“ bewerben Eltern in den sozialen Medien Nahrungsergänzungsmittel mit Melatonin als absolutes Wundermittel für Kinder, die nicht einschlafen wollen. In der Apotheke sollten Eltern also über diesen Widerspruch aufgeklärt werden.
Kann man Melatonin überdosieren?
In der Fachinformation von Slenyto® (Stand 06/2023) heißt es zum Thema Überdosierung: „Für den Fall einer Überdosierung ist Schläfrigkeit zu erwarten. Die Clearance des Wirkstoffs wird innerhalb von 12 Stunden nach der Einnahme erwartet. Es ist keine besondere Behandlung erforderlich.“
In einer Stellungnahme der DGSM von 2018 wird darauf hingewiesen, dass die Dosierung beziehungsweise Darreichungsform von Melatonin auch davon abhängt, ob es zur Einschlafförderung oder bei nächtlichem Aufwachen eingesetzt werden soll. Auch der Einnahmezeitpunkt unterscheidet sich je nach erwünschtem Effekt. Wörtlich heißt es beispielsweise:
„Beim Einsatz als Chronobiotikum bringen höhere Dosen keinen Vorteil gegenüber niedrigeren Dosen, nur eine verstärkte Schläfrigkeit. Daher sollte mit einer niedrigen Dosis von 0,2–0,5 mg gestartet werden. Falls kein Effekt erkennbar ist, kann eine wöchentliche Dosissteigerung um 0,2–0,5 mg erfolgen, bis ein Effekt auftritt. Bei effektiver Dosis kann ein erneuter Versuch einer Dosisreduktion erfolgen. Eine Maximaldosis von 3 mg bei Kindern unter 40 kg bzw. 5 mg bei Jugendlichen über 40 kg sollte nicht überschritten werden. Als Schlafinduktor wird eine Dosis von 1–3 mg angegeben.“
Zudem wird darauf hingewiesen, dass Arzneimittel den Melatoninabbau hemmen können – beispielsweise trizyklische Antidepressiva und Cimetidin.
Schlafhygiene bei Kindern überdenken
Vielmehr sei wichtig, bei einem Arztbesuch herauszufinden, welche Ursache die Schlafstörung haben könne. „Wir sehen immer wieder, dass Kinder und Jugendliche Einschlafprobleme haben, weil sie eine exzessive Handynutzung haben oder Filme vor dem Einschlafen schauen“, sagt Maske. „Meistens erledigen sich die Probleme, wenn die Eltern sich an die Tipps für die Einführung einer Schlafhygiene halten.“
Dazu gehört laut Paditz, Routinen zu entwickeln und vor dem Schlafen zur Ruhe zu kommen. Schließlich spielten auch Stress, Sorgen und Ängste eine Rolle beim Einschlafen. Eltern könnten Kindern am Bett beruhigend über den Kopf streicheln, ihnen ein Buch vorlesen oder ein Schlaflied singen. Quelle: dpa