Aktuelles
5 min merken gemerkt Artikel drucken

Leseprobe PTAheute 15+16/2021: Hoch hinaus war früher mal

Als Kind liebt man es, als Erwachsener jedoch kann es einem bei der Fahrt im Karusell schnell schwindelig werden. Durch Training kann man die Anfälligkeit gegenüber Kinetosen allerdings wieder vermindern.  | Bild: ra-photos / iStockphoto.com

Das Gehirn ist ein faszinierendes Wunderwerk. Bereits bei der Geburt besitzt ein Kind etwa 100 Milliarden Neurone, die sich mehr und mehr miteinander verknüpfen. Im Alter von drei Jahren haben Kinder sogar doppelt so viele Synapsen, also Verbindungsstellen zwischen den einzelnen Nervenzellen, wie Erwachsene. Diese hohe Zahl korreliert mit der großen Lernfähigkeit der Kinder in diesem Alter und bleibt bis zu einem Alter von etwa zehn Jahren konstant; dann werden weniger benutzte Verbindungen nach und nach abgebaut, bis im Jugendalter die für einen Erwachsenen durchschnittliche Synapsenzahl erreicht ist. Aber auch im Erwachsenenalter entstehen immer wieder neue Synapsen und andere werden abgebaut. Das zeigt, dass das Gehirn ein trainierbares Organ ist. Kann man also auch im Erwachsenenalter Karussellfahren oder Schaukeln trainieren und sich erfolgreich daran gewöhnen oder ist man irgendwann einfach zu alt dafür?

Immer ein Balanceakt

Für den richtigen Ablauf aller Körperbewegungen sind das Kleinhirn und der Hirnstamm zuständig. Sie ermöglichen komplexe Bewegungsabläufe und sind maßgeblich an der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beteiligt. Um die Balance zu halten und sich zu orientieren, werden Informationen verschiedener Systeme genutzt: Die Augen liefern Informationen über das, was sie sehen, der Tastsinn der Haut spielt eine Rolle zum Beispiel bei der Wahrnehmung von Druck oder Dehnung. Wichtig ist zudem das propriozeptive System, das Informationen über die Stellung und Bewegung des eigenen Körpers im Raum gibt. Dies funktioniert hauptsächlich über Rezeptoren an Gelenken, Muskeln und Bändern, die dem Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm melden, in welcher Haltung sich der Körper befindet und mit welcher Geschwindigkeit und gegen welchen Widerstand eine Bewegung durchgeführt wird. Eine weitere wichtige Komponente in dem fein aufeinander abgestimmten Gefüge ist das vestibuläre System.

Wahrnehmung von Kopfbewegungen: Aufgabe des Gleichgewichtsorgans

Das paarige Gleichgewichtsorgan oder auch Vestibularorgan sitzt im Innenohr. Es besteht aus drei bogenförmigen Gängen, die jeweils im rechten Winkel zueinander stehen. Diese sind zum Teil mit Lymphflüssigkeit gefüllt und besitzen an den Innenseiten hochempfindliche Sinneszellen, die Haarsinneszellen. Bei Drehbewegungen des Kopfes oder des Körpers mitsamt dem Kopf gerät die Lymphflüssigkeit im Vestibularorgan in Bewegung und die Haarsinneszellen werden mechanisch gereizt. Diese Reize werden in elektrische Impulse übersetzt und an das Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm und das Kleinhirn weitergeleitet.

Passen die Infos?

Die Informationen all dieser Komponenten werden permanent miteinander abgeglichen. Problematisch wird es erst dann, wenn die Informationen, die im Gehirn eintreffen, nicht zueinanderpassen. Bei meiner Karussellfahrt erfasste das vestibuläre System die Drehbewegung. Das propriozeptive System vermeldete dagegen: Der Körper verharrt in einer ruhigen Position. Die Augen meldeten wahrscheinlich abwechselnd Bewegung oder Stillstand, je nachdem, ob ich eher in die Umgebung oder auf die Person neben mir schaute. Kein Wunder, dass das nicht richtig interpretiert werden kann.

Kinetose

Wenn der Körper auf solche widersprüchlichen Sinneseindrücke mit einer körperlichen Reaktion antwortet, bezeichnet man das als Kinetose oder auch Reisekrankheit, weil sie häufig durch Bewegungsreize im Auto, Flugzeug oder auf hoher See ausgelöst wird. Die enge Verknüpfung der gestörten Sinneswahrnehmung mit körperlichen Beschwerden kommt dadurch zustande, weil die Kerne des Gleichgewichtszen­trums, die sogenannten Vestibulariskerne, mit dem Brechzentrum im Hirnstamm in Verbindung stehen.

Kinder und Karussell

Um es gleich vorwegzunehmen: Restlos erforscht ist es noch nicht, warum Kinder Schaukeln und Karussellfahren prima aushalten. Als erwiesen gilt, dass Kinder Dreh- und Schwingbewegungen besser aushalten. Vermutlich liegt das daran, dass bei ihnen die Entwicklung des Gleichgewichtssystems noch nicht vollständig abgeschlossen ist und die Informationen des propriozeptiven Systems eine weitaus größere Rolle spielen als das, was Augen und Innenohr melden.

Aber für Erwachsene gibt es Hoffnung, denn man kann die Anfälligkeit gegenüber Kinetosen durch Training vermindern. Das merkt man zum Beispiel, wenn man mehrere Tage auf See unterwegs ist und die Seekrankheit irgendwann nachlässt, man sich also an das Schwanken gewöhnt hat. Allerdings bleibt einem bei einer längeren Schifffahrt ja in der Regel nicht viel anderes übrig, als zu warten, die Frage ist, ob das Durchhaltevermögen beim Karussellfahren auch so hoch ist.

Reiseübelkeit bei Kindern

Wenn ein Kind unter Reiseübelkeit leidet, helfen verschiedene Tricks:

  • in Fahrtrichtung und möglichst vorne im Auto sitzen
  • möglichst viel nach draußen schauen, nicht lesen
  • etwas kauen (z. B. Kaugummi, Obst, Gemüse)
  • Cocculus D6 oder Nux vomica, mit beidem möglichst schon einige Tage vor der Reise beginnen
  • Dimenhydrinat als Saft oder bei älteren Kindern als Kaugummi

Stiftung Warentest hat verschiedene Präparate gegen Reiseübelkeit einmal genauer unter die Lupe genommen. 

Aber warum wird Kindern so oft beim Autofahren schlecht?

Auch wenn Kinder mit Karussellfahrten meist besser zurechtkommen als Erwachsene, sind sie keineswegs in allen Situationen gegen Schwindel gefeit. Von Reiseübelkeit bei Autofahrten sind sie oft sogar stärker betroffen als Erwachsene. Statistisch gesehen leiden Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren am häufigsten an Reiseübelkeit. Dass Autofahrten Kindern so zusetzen können, hängt wohl damit zusammen, dass die Bewegung weniger rhythmisch ist als gleichmäßige Dreh- oder Schaukelbewegungen. 

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Gleichgewichtszentrum erhält Informationen von verschiedenen Systemen.
  • Das propriozeptive System liefert über Rezeptoren in Gelenken und Muskeln Informationen über Stellung und Bewegung des Körpers.
  • Die Vestibularorgane im Innenohr registrieren Drehbewegungen.
  • Für das Gleichgewicht werden die Informationen, die die Augen liefern, mit denen des Tastsinns, den Informationen des propriozeptiven und des vestibulären Systems abgeglichen.
  • Wenn die verschiedenen Informationen nicht zusammenpassen, reagiert der Körper mit Schwindel.