Drogensubstitution in der Haft hilft Betroffenen
Im Jahr 2004 kamen die internationalen Organisationen WHO (Weltgesundheitsorganisation), UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime) und UNAIDS (Gemeinsames Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids) in einem gemeinsamen Papier bereits zu dem Schluss, „Substitutionstherapie sei eine der wirksamsten Behandlungsmöglichkeiten bei Opioidabhängigkeit“.
Sie könne die hohen Kosten von Opioidabhängigkeit für Individuen, ihre Familien und die Gesellschaft insgesamt senken, indem sie Heroingebrauch, damit verknüpfte Todesfälle, HIV-Risiko-Verhalten und kriminelle Handlungen verringern.
Zur Erinnerung: Was ist Substitution?
Unter Substitution versteht man die Anwendung eines ärztlich verschriebenen Betäubungsmittels zur Behandlung einer Opioidabhängigkeit. Ziel der Therapie ist es, eine Opioidabstinenz anzustreben und so den Patienten wieder eine Teilnahme am gesellschaftlichen und beruflichen Leben zu ermöglichen.
Zu diesem Zweck werden Substitutionsmittel („Drogenersatzstoffe“) wie Levomethadon, Methadon, Buprenorphin und in Ausnahmefällen Zubereitungen aus Codein oder Dihydrocodein verwendet.
Allen Substitutionsmitteln ist gemein, dass sie nicht zur intravenösen Anwendung bestimmt sein dürfen. Die Anwendung dieser Medikamente erfolgt also in Form von Lösungen oder Tabletten ausschließlich oral.
Im Jahr 2007 veröffentlichte das durch die Europäische Kommission ins Leben gerufene Netzwerk European Network on Drugs and Infection Prevention in Prison (ENDIPP) einen konkreten „Leitfaden zur Substitutionsbehandlung im Gefängnis“ mit entsprechenden Handlungsempfehlungen.
Und dennoch blieb es in Deutschland offensichtlich lange Jahre Praxis, opioidabhängigen Inhaftierten in den Justizvollzugsanstalten sowie in Untersuchungshaft keine Substitution anzubieten, sondern auf einen vollständigen Entzug – die „Abstinenz“ – zu setzen.
Aus einem bahnbrechenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) lässt sich beispielsweise herauslesen, dass einem langjährig opioidabhängigen HIV- und Hepatis-C-positiven Inhaftierten, der bereits sechs erfolglose Entzugstherapien hinter sich hatte, empfohlen wurde, „die Haft als Chance für einen Entzug zu sehen“.
Vorenthalten von Substitution in Haft ist „unmenschliche Behandlung“
Eben jenes UrteilAz. 62303/13 vom 01.09.2016, EGMR änderte dann aber offensichtlich die Einstellung der deutschen Strafvollzugsbehörden in dieser Hinsicht. Denn: Die Bundesrepublik Deutschland (und der Freistaat Bayern) wurden darin vom EGMR gerügt, sie hätten mit dem Vorenthalten der Drogensubstitution gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention – das Verbot der unmenschlichen Behandlung – verstoßen.
Das ergibt sich etwa aus der psychischen und physischen Belastung, die mit einem unsubstituierten Drogenentzug einhergeht.
Mittlerweile liegt die „Substitutionsquote der Gefangenenpopulation Deutschlands“ mit dem aktuellsten Stand 2022 zumindest bei 45,8 Prozent. In der JVA, in der der damals klagende Inhaftierte eingesessen hatte, hatte es dem Urteil zufolge vorher dagegen „noch nie“ eine Opioidsubstitution gegeben – dabei sind Opioidabhängige unter Inhaftierten weltweit tatsächlich statistisch überrepräsentiert (weil sie unter anderem wegen ihrer Abhängigkeit und damit verbundenen Straftatbeständen in Haft sind).
Dass die Erkenntnis aus dem Jahr 2004 von der WHO und Co. auch im Jahr 2024 und insbesondere für substituierte Inhaftierte wissenschaftlich evidente Gültigkeit hat, haben nun Forschende der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) mit einer Langzeitstudie belegen können.
Weltweit einmalige Langzeit-Evaluationsstudie zum Effekt der Drogensubstitution in Haft
2020 startete, gefördert durch das Bayrische Justizministerium und letztlich angestoßen durch das EGMR-Urteil, die HOpE-Studie („Haft bei Opioidabhängigkeit“) – eine Evaluationsstudie.
Ein Forschungsteam um Professor Dr. Mark Stemmler vom Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik, Methodenlehre und Rechtspsychologie an der FAU führte die Studie mit insgesamt 247 (männlichen und weiblichen) Inhaftierten in verschiedenen bayrischen Haftanstalten durch.
Evaluiert werden sollten dabei
- „unterschiedliche Behandlungsarten von Opioidabhängigen während der Haft,
- welche Gefangenen von einer Substitutionsbehandlung profitieren und
- in welchen Fällen eine primär abstinenzorientierte Therapie aussichtsreich erscheint“.
Zwischen Anfang 2020 und Ende 2023 befragten die Forschenden die Inhaftierten so in dieser laut der Forscher weltweit einmaligen Langzeitstudie kurz vor ihrer Entlassung, einen Monat nach der Haftentlassung sowie drei bis sechs und zwölf Monate nach der Entlassung zum Drogen- und Substitutionsgebrauch. Zusätzlich werteten die Forschenden Speichelproben aus und befragten das Justizpersonal.
Mehrere Veröffentlichungen, Doktorarbeiten und Vorträge haben die Forschenden zu dem Thema publiziert – insgesamt kommen sie zu positiven Ergebnissen: Die Opioidsubstitution mit Drogenersatzstoffen während der Haft sei wirksam, heißt es.
„Vermindert wurde nicht nur der Konsum von Opioiden, sondern auch der von illegal erlangten Substitutionsmitteln. Auch verringerte sich durch die Teilnahme an der Substitution die Langeweile in Haft, die als Risikofaktor für Drogenkonsum anzusehen ist“.
Effekte auch noch zwölf Monate nach der Entlassung messbar
Auch nach der Haftentlassung sei
- der Konsum illegaler Opioide und nicht verschriebener Substitutionsmedikamente im Vergleich zu Nicht-Substituierten gesunken,
- die Behandelten verspürten ein geringeres Suchtverlangen und auch
- die Zahl der Betäubungsmitteldelikte sank bei der beobachteten Gruppe.
Auch zwölf Monate nach der Entlassung seien diese Effekte zum Teil noch spürbar, jedoch stark reduziert. „Die Substitution ist kein Allheilmittel. Die rein medikamentöse Behandlung von opioidabhängigen Strafgefangenen sollte unbedingt fortgeführt, aber auch ergänzt werden. So sollten diese Menschen sowohl in der Haft als auch in Freiheit durch zusätzliche psychosoziale Maßnahmen wie Drogentherapien unterstützt werden“, sagt Stemmler.
In den Justizvollzugsanstalten hat sich die Substitution mittlerweile wohl gut etabliert. So hatten die Forschenden bereits 2022 bei Befragungen des medizinischen Personals in den Haftanstalten erheben können, dass die „Substitutionstherapie mittlerweile in den Haftanstalten als Standard-Behandlungsmethode angesehen wird, wenn auch deren Nachteile wie die Weitergabe des Substituts problematisiert wurden. Das Abstinenzziel wird zwar von einem Teil der Befragten grundsätzlich positiv bewertet, aber als wenig realistisch eingestuft.“
Follow-up-Untersuchung zwei Jahre nach Haftentlassung in Planung
Die FAU-Forschenden hatten außerdem in einer Meta-Analyse weltweite Daten zur Drogensubstitution bei Inhaftierten erhoben und festgestellt, dass „Teilnehmer, die während der Inhaftierung mit einer OST (Opioid Substitutionstherapie) behandelt wurden, nach der Entlassung signifikant höhere Raten der Behandlungsbeteiligung und signifikant niedrigere Raten des illegalen Drogenkonsums aufwiesen als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe. Darüber hinaus war die Wahrscheinlichkeit, erneut inhaftiert zu werden, bei den mit OST behandelten Studienteilnehmern deutlich geringer als bei den Teilnehmern der Vergleichsgruppe.“
Stemmler und sein Team wollen nun die Erhebung noch fortführen und bereiten aktuell eine vierte Follow-up-Untersuchung, zwei Jahre nach Haftentlassung, vor. Quellen:
- FAU; Drogenersatzstoffe helfen in der Haft - Erlanger Rechtspsychologie erforscht die Substitution opioidabhängiger Strafgefangener; 16. Mai 2024; Pressemitteilung; https://www.fau.de/2024/05/news/drogenersatzstoffe-helfen-in-der-haft/
- H.Op.E. – Haft bei Opioidabhängigen – eine Evaluationstudie, FAU; Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik, Methodenlehre und Rechtspsychologie; ohne Datum; Webauftritt; https://www.lsdiagnostik.phil.uni-erlangen.de/forschungsprojekt_substitution_im_justizvollzug
- Boksán, K., Weiss, M., Geißelsöder, K. et al. Kaum Geschlechtsunterschiede bei Opioidkonsumierenden in Haft. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 17, 43–51 (2023). https://doi.org/10.1007/s11757-022-00747-3
- Andrej Kastelic, Jörg Pont, Heino Stöver; ENDIPP; Leitfaden zur Substitutionsbehandlung im Gefängnis; Oktober 2007; https://ec.europa.eu/health/ph_projects/2003/action3/docs/2003_07_frep_a1_de.pdf
- Maren Weiss , Kerstin Geißelsöder , Maike Breuer , Michael Dechant , Johann Endres , Mark Stemmler , Norbert Wodarz; Behandlung opioidabhängiger Inhaftierter – Einstellungen und Behandlungspraxis des medizinischen Personals in bayerischen Justizvollzugsanstalten; Gesundheitswesen 2022; 84(12): 1107-1112; DOI: 10.1055/a-1399-9286; https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1399-9286
- Boksán K, Dechant M, Weiss M, Hellwig A, Stemmler M. A meta-analysis on the effects of incarceration-based opioid substitution treatment. Medicine, Science and the Law. 2023;63(1):53-60. doi:10.1177/00258024221118971 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/00258024221118971
- WHO, European Region; Status report on prison health in the WHO European Region 2022; 2023; https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/365977/9789289058674-eng.pdf?sequence=1&isAllowed=y
- Länderarbeitsgruppe „Bundeseinheitliche Erhebung zur stoffgebundenen Suchtproblematik im Justizvollzug“; Jährliches Fact-Sheet zur stoffgebundenen Suchtproblematik in bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten; Dezember 2022; https://www.berlin.de/justizvollzug/service/zahlen-und-fakten/drogen-sucht/
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte; Urteil Az. 62303/13 vom 01.09.2016; Wenner vs. Deutschland; 1. September 2016; https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-171711%22]}
- Stemmler, M. (2023). Der Entwicklungsverlauf von opioidabhängigen Strafgefangenen nach ihrer Entlassung in Abhängigkeit der Art der Suchtbehandlung (Substitution versus abstinenzorientiert). In Kriminologisches Forum Bayern–Fischbachau. Friedrich-Alexander-Universität. Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie. https://en.kfn.de/wp-content/uploads/sites/3/2023/12/Praesentation-Stemmler-KrimKoll.pdf
- Boksán, K. (2024). Evaluation der Behandlung von Gefangenen mit Opioidabhängigkeit im bayerischen Strafvollzug: Auswirkungen auf die Legalbewährung und geschlechtsspezifische Aspekte (Doctoral dissertation, Dissertation, Erlangen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), 2023). https://web.archive.org/web/20240224101125id_/https://open.fau.de/server/api/core/bitstreams/7340bc0a-a82f-441c-bd99-5ea4035e8431/content