Aktuelles
7 min merken gemerkt Artikel drucken

Zum Welt-Multiple-Sklerose-Tag am 30. Mai: Multiple Sklerose: Die fünf wichtigsten Entwicklungen

MRT-Bilder vom Kopf eines Patienten mit Multipler Sklerose
Weltweit leben rund 2,8 Millionen Menschen mit Multipler Sklerose, einer Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn, das Rückenmark und die Nervenfasern betrifft. | Bild: New Africa / AdobeStock

Ätiologie und Pathogenese, erfolgreiche Arzneimittel gegen Multiple Sklerose (MS) und Therapieinnovationen: Anlässlich des Welt-Multiple-Sklerose-Tags am 30. Mai hat Professor Dr. Sven Meuth, MS-Experte und Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, fünf wichtige Erkenntnisse des letzten Jahres zusammengefasst. 

MS-Langzeitbehandlung mit Ocrelizumab

Ocrelizumab (Ocrevus®) war 2018 der erste B-Zell-depletierende Antikörper, den die EMA zur Behandlung von Multipler Sklerose zugelassen hat. Mittlerweile gibt es zwei weitere: 

Allerdings ist Ocrelizumab bislang der einzige B-Zell-Antikörper, den Neurologen – neben schubförmiger MS – auch bei primär progredienter MS anwenden dürfen. Die beiden anderen Antikörper haben lediglich eine Zulassung bei schubförmiger MS.

Therapie mit Ocrelizumab frühzeitig beginnen

Nun gibt es Zehn-Jahres-Daten zu Ocrelizumab: „Die vielleicht wichtigste Erkenntnis war, dass eine früher begonnene Therapie mit Ocrelizumab zu besseren Langzeitergebnissen führt (Schubratenreduktion und weniger Behinderungen), d. h. eine initiale Therapie, oft auf Patientenwunsch, mit ‚weniger starken‘ Medikamenten ist nur bedingt sinnvoll“, sagt Meuth. Er bezieht sich dabei auf eine StudieNeurology Neuroimmunology & Neuroinflammation: „Effect of Previous Disease-Modifying Therapy on Treatment Effectiveness for Patients Treated With Ocrelizumab“ , bei der Patienten mit schubförmiger MS von Ocrelizumab weniger profitierten, wenn sie zuvor Fingolimod erhalten hatten (verglichen mit therapienaiven Patienten oder Patienten mit anderen MS-Arzneimitteln). 

Auch hätten Neun-Jahres-Daten zu Ocrelizumab gezeigt, dass 48,2 Prozent der Patienten mit Erstlinientherapie Ocrelizumab keine Krankheitsaktivität zeigtenNEDA: No Evidence of Disease Activity , verglichen mit lediglich 25,7 Prozent der Patienten, die zuvor Interferon angewendet hatten„Long-Term Treatment With First-Line Ocrelizumab in Patients With Early RMS: 9-Year Follow-Up Data From the OPERA Trial“, vorgestellt beim 75. Jahreskongress der American Academy of Neurology im April 2023 in Boston 

Zudem habe eine frühzeitige Gabe von Ocrelizumab motorische Funktionen gesichert, die sonst später nicht wiedergewonnen wurden„Delayed Signs of Early Disability Progression After 8.5 Years of Ocrelizumab Treatment in Patients With Relapsing Multiple Sclerosis“, vorgestellt beim 75. Jahreskongress der American Academy of Neurology im April 2023 in Boston . Alle diese Daten beziehen sich lediglich auf Patienten mit schubförmiger MS. 

Die schwelende ZNS-Entzündung bei an primär progredienter MS Erkrankten kann der Antikörper hingegen – trotz Zulassung – nur unzureichend adressieren, da er nicht ins ZNS penetriert.

Zur Erinnerung: Formen der Multiplen Sklerose

Der Großteil der MS-Patienten wird bei Krankheitsbeginn mit einer schubförmig-remittierenden MS diagnostiziert, bei der zwischen den Schüben eine vollständige Remission eintritt. 

Bei der schubförmig-progredienten MS ist ein fortschreitender Verlauf erkennbar, jedoch sind einzelne Schübe klar abzugrenzen und es kann zur vollständigen Remission zwischen den Schüben kommen. 

Von den schubförmig verlaufenden MS-Ausprägungen sind die chronisch-fortschreitenden Formen zu unterscheiden, bei denen die Erkrankung im Zeitverlauf an Schwere zunimmt, ohne dass Schübe auszumachen sind. 

„Aus arzneimittelregulatorischer Sicht wichtig ist zudem die Einteilung der MS-Verlaufsformen durch die European Medicines Agency (EMA). Sie unterscheidet in RMS (relapsing MS: MS mit Schüben), SPMS [sekundär progrediente MS] und PPMS [primär progrediente MS], wobei die RMS die RRMS [schubförmig remittierende MS] und SPMS mit überlagerten Schüben (d. h. aktive SPMS) umfasst“, heißt es in der aktuellen MS-LeitlinieS2k-Leitlinie Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen - Living Guideline .

MS: BTKI sollen schwelende ZNS-Entzündung unterdrücken 

Hier kommt eine neue Substanzklasse – die BTKI (Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren) – ins Spiel. Derzeit laufen Phase-3-Studien, aktuell ist noch kein BTKI bei MS zugelassen. Als „kleine Moleküle“ (small molecules) schaffen sie, was Antikörpern nicht gelingt: Sie kommen ins ZNS und sollen dort B-Zellen, denen eine wesentliche Rolle in der Pathogenese bei MS zugeschrieben wird, hemmen und „weitere Immunzellen modifizieren, wie die Mikroglia im Gehirn“, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). 

Sanofi untersucht derzeit Tolebrutinib, Roches Kandidat heißt Fenebrutinib. Am weitesten war Merck mit Evobrutinib. Allerdings verfehlte Evobrutinib in zwei Phase-3-StudienevolutionRMS 1 und evolutionRMS 2  den primären Endpunkt, da der BTKI die jährliche Schubrate nicht besser reduzierte als Teriflunomid (Aubagio®). Daraus werde abgeleitet, erklärt die DGN, dass „positive Therapieeffekte mit klassischen Studiendesigns vermutlich gar nicht mehr gezeigt werden können“. Der Grund sei, dass die Schubraten heute durch die Therapiefortschritte des letzten Jahrzehnts schon zu gering seien, um eine weitere signifikante Reduktion zu zeigen. „Für die Zukunft ist daher zu überdenken, ob die Schubrate tatsächlich einen geeigneten primären Endpunkt darstellt, wenn das eigentliche Therapieziel die Reduktion langfristiger Behinderung ist“, erklärt Meuth. 

Bereits 2019 wurde vorgeschlagen, unter anderem von Professor Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, die Endpunkte bei klinischen Phase-3-MS-Studien zu überdenken und mehr auf patientenrelevante Aspekte einzugehenEPMA Journal: „Suggestions for improving the design of clinical trials in multiple sclerosis—results of a systematic analysis of completed phase III trials“ .

CAR-T-Zellen bei MS 

Neben BTKI sind CAR-T-Zellen derzeit ein Thema bei MS. Wir kennen CAR-T-Zellen aus der erfolgreichen Therapie maligner Erkrankungen des Blut- und Lymphsystems. Zunehmend untersuchen Wissenschaftler auch, wie wirksam CAR-T-Zellen bei Autoimmunerkrankungen sind, z. B. bei Myasthenia gravis

Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) haben zwei MS-Patienten im Rahmen eines individuellen Heilversuchs nun ebenfalls eine CAR-T-Zelltherapie erhalten (CD19-CAR-T-Zellen). Das Sicherheitsprofil war akzeptabel und es zeigten sich laborchemisch Hinweise auf eine erfolgreiche Entzündungskontrolle. 

Das Problem sind der DGN zufolge die potenziellen Nebenwirkungen: Das Immunsystem werde bei einer CAR-T-Zellbehandlung so massiv aktiviert, dass es zu einer gefährlichen generalisierten, systemischen Entzündungsreaktion kommen könne (Zytokin-Release-Syndrom) – diese trat bei einem der Hamburger Patienten auf. „Nutzen und Risiken müssen gut abgewogen werden; eine CAR-T-Zell-Therapie bei MS ist nur in bestimmten Fällen geeignet“, betont Meuth. Klinische Studienprogramme zu CAR-T-Zelltherapien bei MS liefen jedoch bereits.

Risiko-Gene für Multiple Sklerose

Ein Stück weiter ist die Forschung auch bei MS-Risiko-Genen: Nach Analyse prähistorischer menschlicher Knochenproben aus der ganzen Welt habe man, wie die DGN berichtet, MS-Risiko-Gene verglichen. 

Das MS-Risiko sei vor etwa 5.000 Jahren mit Völkerwanderungen aus der pontisch-kaspischen Steppe nach Europa gebracht worden, wobei die MS-Gene auf den Chromosomen in der Nähe zu immunologischen Genvarianten lägen. Diese hätten früher einen Vorteil bei der Immunabwehr gegen bestimmte Erreger geschaffen, heute führe eine Überaktivierung zur Erhöhung des MS-Risikos. „Hier sind in den nächsten Jahren weitere Erkenntnisse zu erwarten, die vor allem Fortschritte bei der Prävention bedeuten können“, denkt Professor Meuth.

Personalisierte MS-Medizin

Als einen „Meilenstein auf dem Weg zur personalisierten MS-Therapie“ ist der DGN zufolge die Entdeckung von drei immunologischen Typen der frühen MS gewesen – z. B. unterschiedliche Anteile von CD4-Gedächtnis- oder CD8-T-Zellen –, die möglicherweise auch einen unterschiedlichen Krankheitsverlauf hätten. „Da MS-Standard-Immuntherapien Immunsignaturen unterschiedlich modifizieren, könnte über den Endophänotyp möglicherweise der Krankheitsverlauf und das Therapieansprechen vorhergesagt werden“, erklärt Meuth.

DGN-Pressesprecher Professor Dr. Peter Berlit sagt: „Diese fünf Themen demonstrieren eindrucksvoll den kontinuierlichen Forschungsfortschritt bei der Multiplen Sklerose, der sich in Klinik und Praxis zügig in verbesserte Therapien und Versorgungsmöglichkeiten der Betroffenen übersetzen lässt.“

Es bleibt damit spannend, was wir am Welt-Multiple-Sklerose-Tag am 30. Mai 2025 berichten dürfen.

Welt-MS-Tag am 30. Mai

Unter dem Motto „Diagnose MS: Mit MUT und STÄRKE LEBEN lernen“ wird dieses Jahr am 30. Mai der Welt-MS-Tag begangen.

Ziel dieses Aktionstages ist es, die Menschen auf die „Krankheit mit 1.000 Gesichtern“ aufmerksam zu machen, über sie aufzuklären und den mehr als 280.000 erkrankten Menschen in Deutschland Unterstützung anzubieten, Mut zu machen und sie miteinander zu verbinden. 

Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) informiert, berät, fördert unabhängige MS-Forschungsprojekte und hilft mit ihrer Stiftung in Notlagen. Mit dem Welt-MS-Tag will die DMSG Vorurteile ausräumen sowie Verständnis und Unterstützung generieren. 

Umfangreiche Informationsmaterialien der DMSG zum Thema MS liegen dank der Unterstützung durch die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) auch in Apotheken aus. /vs