Aktuelles
4 min merken gemerkt Artikel drucken

Checkliste für Fachkreise: Blaue Hand: Schulungsmaterial zu Valproat kaum bekannt

Das Schulungsmaterial zu Valproat-haltigen Arzneimitteln ist zu wenig bekannt. | Bild: contrastwerkstatt / AdobeStock

Auf den Websites des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) findet sich eine Übersicht über Wirkstoffe und Warenzeichen, für die behördlich Schulungsmaterialien angeordnet worden sind. Erkennbar ist dieses Material an dem Blaue-Hand-Logo.

Zur Erinnerung: Was ist die Blaue Hand?

Seit 2016 ergänzt die Blaue Hand die Rote und kennzeichnet behördlich angeordnetes und genehmigtes Schulungsmaterial, wie etwa Checklisten, Patientenausweise, Leitfäden oder Broschüren für Patienten.  

Dies wird immer dann erforderlich, wenn für die sachgerechte Anwendung zusätzliche Informationen erforderlich sind, die über die Fach- und Gebrauchsinformation hinausgehen. Das Material ist beispielsweise Bestandteil sogenannter Risikomanagementpläne und erforderlich, um ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis zu gewährleisten. Seit der Einführung wird das Angebot stetig erweitert.

„Allein im Zuständigkeitsbereich des BfArM wurde bis heute für circa elf Prozent der aktuell verkehrsfähigen Wirkstoffe (ohne Homöopathika, Anthroposophika und Phytopharmaka) Schulungsmaterial angeordnet“, war in der September-Ausgabe 2022 des „Bulletin zur Arzneimittelsicherheit“ zu lesen. 

Doch offenbar kommt solchem behördlich genehmigten Schulungsmaterial nicht die benötigte Aufmerksamkeit zu, wie eine Untersuchung von Embryotox zum Antiepileptikum Valproat und anderen teratogenen Arzneimitteln zeigt.

Zur Erinnerung: Wann wird Valproat eingesetzt?

Die Anwendungsgebiete von Valproat sind erheblich eingeschränkt. Grund dafür ist das hohe teratogene Risiko. Durch Einnahme von Valproat-haltigen Arzneimitteln während der Schwangerschaft kann es zu Fehlbildungen, Neuralrohr- und anderen Defekten kommen. Daher müssen Frauen im gebärfähigen Alter unbedingt über die Risiken aufgeklärt werden und auf einen effektiven Konzeptionsschutz achten.

Eingesetzt wird der Wirkstoff beispielsweise zur Behandlung von Epilepsie, bei bipolaren Störungen sowie in der Migränetherapie.

Schulungsmaterial zu Valproat-haltigen Arzneimitteln

Im Falle von Valproat gibt es als behördlich genehmigtes Schulungsmaterial beispielsweise 

  • einen Leitfaden für medizinische Fachkräfte, 
  • ein Formular zur Risikoaufklärung für Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter, die der verordnende Arzt jährlich ausfüllen soll, 
  • einen Patientenleitfaden und 
  • eine Patientenkarte. 

Die Patientenkarte liegt inzwischen jeder Packung bei und weist in einfacher Sprache auf schwerwiegende Schäden beim ungeborenen Kind hin. Zudem werden Patientinnen zu einer wirksamen Verhütung aufgefordert. Auch bei Kinderwunsch sollen sie erst mit dem behandelnden Arzt sprechen, bevor die Verhütung beendet wird.

Schulungsunterlagen nicht nur bei Valproat kaum bekannt

In einem Projekt des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie (PVZ Embryotox) wurde der Kenntnisstand von Ärzten und Patientinnen zu ausgewählten teratogenen Arzneistoffen überprüft. Ebenso wurde herausgefunden, wie bekannt das Schulungsmaterial und das Blaue-Hand-Logo sind. 

Dafür wurden vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2021 insgesamt 375 Patientinnen und 172 behandelnde Ärzte befragt, die bestimmte Arzneistoffe anwenden. Für das Projekt unterschieden die Wissenschaftler drei Gruppen:

  • Gruppe A: teratogene Arzneistoffe mit schwangerschaftsbezogenem Schulungsmaterial (z. B. Valproat, Fingolimod, Isotretinoin)
  • Gruppe B: teratogene Arzneistoffe mit Schulungsmaterial ohne Schwangerschaftsbezug (z. B. Methotrexat, Tretinoin)
  • Gruppe C: nichtteratogene Arzneistoffe mit Schulungsmaterial ebenfalls ohne Schwangerschaftsbezug (z. B. Etanercept)

Von den 172 Ärzten kannte nur rund jeder Dritte das offizielle Schulungsmaterial, das mit dem Blaue-Hand-Logo versehen ist. Interessanterweise gaben sogar 31,4 Prozent an, dass sie das schwangerschaftsbezogene Informationsmaterial für Methotrexat (Gruppe B) kennen – dabei gibt es das gar nicht. Tatsächlich beziehen sich die Blaue-Hand-Unterlagen nämlich auf das einmal wöchentliche Einnahmeintervall von Methotrexat, nicht jedoch auf das teratogene Risiko. Auch unter den Patientinnen der Medikamentengruppe B und C glaubten 7,8 bzw. 7,5 Prozent, dass sie Materialien zum Risiko für Fehlbildungen kennen, obwohl es diese gar nicht gibt.  

Von den Patientinnen, die tatsächlich teratogene Arzneistoffe der Gruppe A mit angeordnetem Schulungsmaterial einnahmen, kannten nur 20,9 Prozent die Unterlagen zum Risiko für Fehlbildungen unter der Behandlung mit dem Medikament. Immerhin: Diejenigen, die die Unterlagen kannten, fanden sie fast immer gut verständlich.

Mehr Aufklärungsarbeit notwendig

Von den befragten Patientinnen wurde nur jede zweite vor der Behandlung nach einem Schwangerschaftstest gefragt. In der Studie gaben insgesamt 71,5 Prozent der Patientinnen an, ungeplant schwanger geworden zu sein. Unter der Personengruppe der Medikamente A war der Anteil mit 83,7 Prozent sogar noch höher. Die Ergebnisse wurden in der September-Ausgabe 2022 des „Bulletin zur Arzneimittelsicherheit“ veröffentlicht.

Kurzum: Es gibt massiven Aufklärungsbedarf! Insbesondere bei teratogenen Arzneistoffen sind die Folgen mitunter gravierend und Unkenntnis besonders tragisch. Doch die Schulungsmaterialien können nur dann als Instrument der Risikominimierung wirken, wenn sie bekannt sind und genutzt werden.

Auch Apotheken können und sollen die Therapiesicherheit bei der Abgabe der Arzneimittel unterstützen und gezielt auf das Schulungsmaterial verweisen.