Rote-Hand-Brief: Orale Retinoide: Diese Hinweise sind zu beachten
Bei einer Isotretinoin-Verordnung denken viele Apothekenangestellte – aufgrund schmerzlicher Erfahrungen in der Vergangenheit – zunächst an Retaxfallen: Verschreibungen für Frauen im gebärfähigen Alter dürfen nur bis sechs Tage nach Ausstellung beliefert werden und sind auf den Bedarf für 30 Tage beschränkt.
Doch diese formalen Auflagen haben durchaus einen Sinn: Orale Retinoide sind in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert, es gilt ein striktes Schwangerschaftsverhütungsprogramm.
Rote-Hand-Brief: AkdÄ erinnert an teratogene Wirkung
Daran erinnert die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) nun Anfang Mai in einem Rote-Hand-Brief:
„Orale Retinoide sind stark teratogen und die Anwendung ist daher während der Schwangerschaft kontraindiziert. Auch bei Frauen im gebärfähigen Alter sind orale Retinoide kontraindiziert, es sei denn, es werden alle Bedingungen des Schwangerschaftsverhütungsprogramms (pregnancy prevention programme – PPP) eingehalten.“
So weisen die Zulassungsinhaber von acitretin-, alitretinoin- und isotretinoinhaltigen Arzneimitteln in dem Rote-Hand-Brief unter anderem darauf hin, dass die zugelassenen Indikationen bei der Verschreibung oraler Retinoide strikt eingehalten werden müssen.
Zur Erinnerung: Anwendungsgebiete der Retinoide
Acitretin ist laut ABDA-Datenbank (Stand 6. Februar 2023) indiziert zur symptomatischen Behandlung von schwersten, einer konventionellen Therapie nicht zugänglichen Verhornungsstörungen des Hautorgans wie:
- Psoriasis vulgaris, vor allem erythrodermatische und pustulöse Formen
- Hyperkeratosis palmoplantaris
- Pustulosis palmoplantaris
- Ichthyosis
- Morbus Darier
- Pityriasis rubra pilaris
- Lichen ruber planus der Haut und Schleimhäute
Alitretinoin wird bei Erwachsenen mit schwerem chronischen Handekzem angewendet, das auf die Behandlung mit potenten topischen Corticoiden nicht anspricht. Wenn das Ekzem bereits mit Standardmaßnahmen wie Hautschutz, Vermeidung von Allergenen und Reizstoffen sowie Behandlung mit potenten topischen Corticoiden unter Kontrolle gebracht werden kann, sollte Alitretinoin nicht verordnet werden.
Isotretinoin kommt bei schweren Formen der Akne (Akne nodularis, Akne conglobata oder Akne mit dem Risiko einer permanenten Narbenbildung) zum Einsatz, wenn sich die Akne gegenüber adäquaten Standardtherapiezyklen mit systemischen Antibiotika und topischer Therapie als resistent gezeigt hat.(dm, ABDA-Datenbank)
Blaue Hand gibt Hilfestellung bei Retinoid-Verordnungen
Vor der Abgabe solch nebenwirkungsträchtiger oder teratogener Wirkstoffe wie den Retinoiden lohnt also immer ein Blick in die EDV oder auf die Homepage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Fachkreise finden dort nämlich behördlich angeordnetes Schulungsmaterial, erkennbar an der „Blauen Hand“.
Im Fall von Acitretin, Alitretinoin und Isotretinoin gehört neben einer Checkliste für Apotheken eine Checkliste für den Arzt sowie eine Patientenkarte dazu. Erstgenannte Liste schützt die Apotheke nebenbei auch vor wirtschaftlichem Schaden – dort stehen die nötigen Rezeptformalien und Abgabebeschränkungen direkt an erster Stelle.
Zur Erinnerung: Was ist die Blaue Hand?
Seit 2016 ergänzt die Blaue Hand die Rote und kennzeichnet behördlich angeordnetes und genehmigtes Schulungsmaterial, wie etwa Checklisten, Patientenausweise, Leitfäden oder Broschüren für Patienten.
Dies wird immer dann erforderlich, wenn für die sachgerechte Anwendung zusätzliche Informationen erforderlich sind, die über die Fach- und Gebrauchsinformation hinausgehen. Das Material ist beispielsweise Bestandteil sogenannter Risikomanagementpläne und erforderlich, um ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis zu gewährleisten.
Seit der Einführung wird das Angebot stetig erweitert. Das Schulungsmaterial kann auf der Homepage des BfArM beziehungsweise – im Fall von biomedizinischen Arzneimitteln wie Antikörpern – auf der Website des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) aufgerufen werden.
Orale Retinoide bei Schwangerschaft kontraindiziert
Wichtiger als eine Retaxation ist natürlich die Arzneimitteltherapiesicherheit. Denn bei oraler Anwendung drohen in der Schwangerschaft selbst bei kurzzeitiger Einnahme schwerste Schäden. Experten sprechen vom charakteristischen Retinoid-Syndrom:
- Fehlanlage der Ohren,
- Störungen der Gesichts- und Gaumenbildung,
- Herzfehler sowie
- zahlreiche Entwicklungsstörungen im Bereich des Thymus und ZNS in unterschiedlichem Ausmaß.
Embryotox beziffert das Fehlbildungsrisiko auf 25 Prozent bei oraler Einnahme im ersten Trimenon. Zahlreiche Schwangerschaften werden bei Exposition aus Angst vor der fruchtschädigenden Wirkung abgebrochen. Zudem ist das Risiko für eine Fehlgeburt deutlich erhöht.
Gut zu wissen: Gilt das auch für topische Retinoide?
Für topische Retinoide wie Adapalen erklärt Embryotox zur Risikoeinordnung der Anwendung bei Akne vulgaris: „Eine Metaanalyse prospektiver Studien mit Einschluss von fast 600 Schwangerschaften nach lokaler Retinoid-Therapie – davon jedoch nur 24 mit Adapalen – ermittelte keine signifikant erhöhten Fehlbildungs- oder Fehlgeburtsraten. Mit dieser Fallzahl kann jedoch nicht jegliches Risiko ausgeschlossen werden. Zudem gibt es wenige publizierte Einzelfälle, die den Verdacht haben aufkommen lassen, dass auch nach lokaler Anwendung Retinoid-typische Fehlbildungen auftreten können.“ /dm
Orale Retinoide: Sichere Verhütung zwingend notwendig
Um das zu verhindern, unterliegen Retinoide also einem strikten Schwangerschaftsverhütungsprogramm. Darauf wird auch in aller Deutlichkeit noch einmal in dem aktuellen Rote-Hand-Brief hingewiesen.
So ist vor Behandlungsbeginn eine Schwangerschaft sicher auszuschließen. Hierzu müssen Frauen im gebärfähigen Alter kurz (innerhalb der letzten 3 Tage) vor der ersten Verschreibung einen Schwangerschaftstest unter ärztlicher Überwachung durchführen.
Ein Schwangerschaftstest muss außerdem
- während der Behandlung monatlich und
- einen Monat nach Absetzen von Isotretinoin oder Alitretinoin bzw. nach Absetzen von Acitretin in ein- bis dreimonatigen Abständen über einen Zeitraum von drei Jahren durchgeführt werden.
Außerdem müssen Frauen im gebährfähigen Alter mindestens einen Monat vor Beginn der Therapie und für die Dauer der Behandlung mit oralen Retinoiden sicher verhüten.
Als sichere Verhütung gilt entweder eine anwenderunabhängige Methode (Spirale, Implantat) oder alternativ zwei sich ergänzende Verhütungsmethoden. Ein orales Kontrazeptivum alleine reicht also nicht aus, sondern muss beispielsweise mit einer Barrieremethode, wie einem Kondom, kombiniert werden.
Da Acitretin zudem die empfängnisverhütende Wirkung von niedrig dosierten Progesteron-Präparaten herabsetzen kann, sind sogenannte Minipillen zur Verhütung übrigens nicht geeignet. Kombinierte orale Kontrazeptiva sind von dieser Wechselwirkung nicht betroffen, Isotretinoin und Alitretinoin ebenfalls nicht.
Die sichere Kontrazeption muss nach dem Absetzen von Alitretinoin und Isotretinoin mindestens einen weiteren Monat fortgesetzt werden. Danach ist auch die Blutspende wieder erlaubt.
Gut zu wissen: Blutspende bei oralen Retinoiden
Während der Behandlung mit oralen Retinoiden dürfen Patienten vorerst kein Blut mehr spenden.
Das gilt auch für Männer, denn bei einer schwangeren Empfängerin des Spenderblutes besteht laut Blaue-Hand-Material ein Risiko für den Fötus.
Kein Alkohol bei Acitretin
Alkohol ist während der Einnahme von Acitretin und bis zwei Monate danach tabu. Andernfalls bildet sich Etretinat, ein hoch teratogener Metabolit mit einer Halbwertszeit von etwa 120 Tagen.
Was tun bei Schwangerschaft?
Tritt eine Schwangerschaft während der Retinoid-Therapie oder innerhalb eines Monats (bzw. Acitretin: drei Jahre) nach dem Absetzen auf, muss sich die Patientin sofort an ihren behandelnden Arzt wenden und individuell beraten lassen.
Außerdem soll der Fall an den Zulassungsinhaber gemeldet werden, damit dieser den Ausgang der Schwangerschaft nachverfolgen kann.
Aufklärungsbedarf besteht nach wie vor
Eine Patientenkarte fasst die wichtigsten Hinweise für Laien verständlich zusammen und sollte vom Patienten sorgfältig aufbewahrt werden.
Leider hat eine Untersuchung von Embryotox gezeigt, dass trotz all der Auflagen großer Aufklärungsbedarf besteht. Auch im Rote-Hand-Brief wird darauf hingewiesen, dass es in Deutschland „weiterhin zu Schwangerschaften bei Frauen, die orale Retinoide einnehmen“, kommt.
„Zudem ist die Anzahl an Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter, die Isotretinoin einnehmen, zwischen 2004 und 2019 in Deutschland gestiegen.“
Noch immer treten also ungeplante Schwangerschaften unter Retinoiden auf und auch die Schulungsmaterialien sind kaum bekannt. Das pharmazeutische Personal sollte die angebotenen Materialien in der Beratung also gezielt nutzen.