Erythrit: nur süß oder auch sicher?
Erythrit: süß, ohne Kalorien, nicht kariogen. Diese Vorteile des Zuckeralkohols nutzt man gerne, um mit ihm Zucker zu ersetzen und Lebensmittel dadurch kalorienärmer zu machen. Zudem beeinflusst Erythrit den Blutzucker- und Insulinspiegel nicht – wodurch das Süßungsmittel auch für Menschen mit Diabetes attraktiv ist.
Auch ist Erythrit für den Magen-Darm-Trakt gut verträglich: 90 Prozent des Erythrits nimmt der Dünndarm auf, um es anschließend über die Nieren auszuscheiden. Nur 10 Prozent verbleiben im Dickdarm und können Blähungen und Durchfall verursachen.
Doch haben wir uns über den kalorienfreien Süßer zu früh gefreut? Einer Ende Februar 2023 im Fachjournal „Nature medicine“ veröffentlichten Studie(„The artificial sweetener erythritol and cardiovascular event risk“) zufolge erhöht Erythrit das Risiko für Blutgerinnsel (Thromben), Herzinfarkte und Schlaganfälle.
Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler von der Cleveland Clinic in Ohio (USA), nachdem sie bei 1.157 Patienten mit koronarer Herzkrankheit(aus der GATC-Studie: „Molecular Determinants of Coronary Artery Disease“) das Metabolom – die Gesamtheit aller Stoffwechseleigenschaften einer Zelle – analysiert hatten. Sie hatten auch geschaut, welche Stoffwechselprodukte mit späteren schweren Herz-Kreislauf-Ereignissen(MACE: major adverse cardiovascular events) wie Tod, nicht tödlichem Herzinfarkt oder Schlaganfall zusammenhängen.
Erhöhte Erythritspiegel = erhöhte Herzinfarktgefahr?
Dabei stießen sie auf Erythrit: Patienten mit einem innerhalb von drei Jahren schweren kardiovaskulären Ereignis zeigten erhöhte Konzentrationen von Erythrit im Blut. Das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse war für den Zuckeraustauschstoff 3,22-mal so hoch (Hazard Ratio 3,22).
Daraufhin untersuchten die Wissenschaftler zwei weitere Kohorten – eine aus den Vereinigten Staaten (2.149 weitere Teilnehmer der GATC-Studie) und eine aus Deutschland (833 Teilnehmer der LipidCardio-Studie). Auch diese Menschen wiesen bereits kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Diabetes und Adipositas auf. Sie waren jedoch kardiovaskulär stabil und hatten sich einer Untersuchung unterzogen.
Das Ergebnis: Auch in diesen Studien fanden die Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen erhöhten Erythrit-Spiegeln im Blut und Herz-Kreislauf-Ereignissen. Dabei zeigten jedoch lediglich die obersten 25 Prozent ein statistisch signifikant erhöhtes Herz-Kreislauf-Risiko mit Erythrit-Spiegeln bis 46 µmol (USA-Kohorte) beziehungsweise 137 µmol (deutsche Kohorte). Drei Viertel der untersuchten Teilnehmer zeigten kein erhöhtes Risiko (Erythrit-Spiegel bis 6 µmol).
Wie wirkt sich Erythrit auf unser Blut aus?
Die Wissenschaftler machten sich dann auf die Suche nach dem zugrundeliegenden Mechanismus. Sie testeten in vitro (im Reagenzglas), wie sich Erythrit auf Blut und Blutplättchen (Thrombozyten) auswirkt. Denn sowohl Herzinfarkt als auch Schlaganfall sind kardiovaskuläre Ereignisse, die typischerweise mit einer Störung der Blutgerinnung einhergehen.
Die Wissenschaftler konnten tatsächlich zeigen, dass der Zuckeraustauschstoff mit steigender Konzentration die menschliche Thrombozytenaggregation fördert. Außerdem konnten sie feststellen, dass es zu einer beschleunigten Gerinnungsbildung kommt, was sich tierexperimentell an Mäusen bestätigte.
Zuletzt führten die Studienautoren noch eine kleine prospektive Studie mit acht gesunden Probanden durch. Die Teilnehmer konsumierten ein mit 30 g Erythrit gesüßtes Getränk, was laut den Wissenschaftlern einer handelsüblichen Getränkedose entspricht. Und auch hier: Der Erythrit-Spiegel im Blut stieg um den Faktor 1.000, hielt sich über zwei Tage erhöht, und die Blutplättchen veränderten ihre Aktivität signifikant.
Erythrit stimuliert Gerinnungsprozesse
Was tun mit diesen Ergebnissen? Ist es Zeit, dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ihr positives Gutachten zu Erythrit von 2015 überarbeitet?
Das „Science Media Center“ hat Wissenschaftler gebeten, die Studienergebnisse einzuordnen, mit dabei auch Dr. Stefan Kabisch, Studienarzt in der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin, Campus Benjamin Franklin an der Berliner Charité.
„Hohe Erythrit-Spiegel standen in statistischer Beziehung mit einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die typischerweise durch Störungen der Blutgerinnung begleitet sind“, doch könnten die Ergebnisse auf möglichen Störgrößen beruhen. Denn: Typischerweise seien Personen mit hohem Konsum von Zuckerersatzstoffen adipöser, metabolisch kränker und hätten einen insgesamt ungesünderen Lebensstil.
Doch die Wissenschaftler konnten zeigen, dass bei „sehr hoher Erythrit-Dosis“ die Erythrit-Zufuhr tatsächlich bestimmte Gerinnungsprozesse stimuliert, was einen ursächlichen Zusammenhang untermauere.
Woher kommt das Erythrit?
Der Erythrit-Spiegel im Blut setzt sich zusammen aus durch Nahrung aufgenommenes Erythrit (natürlich oder durch Zusatz) und der körpereigenen Produktion. Könnten die Patienten mit schweren kardiovaskulären Ereignissen und erhöhten Erythrit-Spiegeln nicht vielleicht eine körpereigene hohe Erythrit-Produktion haben? Kabisch denkt allerdings, dass die in der Studie eingesetzte Dosis – verglichen mit den Spiegeln der Kohorten – „äußerst hoch und somit von den meisten Menschen nicht durch die Ernährung erreichbar“ sei.
Hochrisikopatienten vs. gesunde Menschen
Der Studienarzt weist darauf hin, dass die Kohorten aus Hochrisikopatienten bestanden, für gesündere Menschen sei der „Risikozusammenhang sehr wahrscheinlich geringer“. Dennoch hält er die Publikation für einen „wichtigen, ja überfälligen Impuls“, auch bereits zugelassene Nahrungsmittel-Zusatzstoffe wie Süßungsmittel intensiver zu beforschen.
Und: „Für eine Warnung vor Zuckerersatzstoffen ist es zu früh. Der Wechsel zurück zum Zucker ist vermutlich nicht der gesündere Weg.“