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Zum internationalen Frauentag 2022: Genderunterschied bei der Arzneimittelwirkung?

Viele junge Menschen wissen, dass es Unterschiede bei Krankheitssymptomen von Mann und Frau gibt. Arzneimittelstudien orientieren sich jedoch häufig immer noch am männlichen Normkörper. | Bild: juniart / AdobeStock

„Die medizinische Forschung orientiert sich am männlichen Normkörper“, so Prof. Dr. Oertelt-Prigione, Inhaberin von Deutschlands erster Professur für geschlechtersensible Medizin. „Frauen zeigen bei den gleichen Erkrankungen aber häufig andere Symptome. So sind bei Männern die klassischen Symptome für einen drohenden Herzinfarkt starke Brustschmerzen, junge Frauen können in dieser Situation unter Übelkeit und Schwindel leiden. Asthma zeigt sich bei Jungen durch Geräusche beim Atmen, bei Mädchen oft durch trockenen Husten.“

Bei der Diagnose von Erkrankungen, aber auch bei der Behandlung sei es wichtig, dass Ärzte geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen.

Unterschiede müssen stärker berücksichtigt werden

„Frauen leiden generell öfter unter Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Gleichzeitig können Medikamente bei Frauen aufgrund von Körpergröße, Gewicht und Hormonen anders wirken als bei Männern“, so Prof. Oertelt-Prigione. „Wir haben bei klinischen Studien zu Corona festgestellt, dass das Geschlecht kaum beachtet wurde, obwohl längst bekannt war, dass Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind – es hatte sich einfach so etabliert und war gesellschaftlich akzeptiert. Inzwischen sehen wir bereits einen Wandel bei der Auswahl der Probanden für Studien. Die geschlechterspezifische Analyse erfolgt aber weiterhin zu selten.“

Ärzte, Pharmafirmen und der Gesetzgeber in der Pflicht 

Wie eine aktuelle, repräsentative Studie der pronova BKKDie Studie "Geschlechtersensible Medizin" wurde im Februar 2022 im
Auftrag der pronova BKK durchgeführt. Bundesweit wurden 1.000
Erwachsene ab 18 Jahre repräsentativ online befragt.
 
 zeigt, wissen viele Menschen, dass es auch bei Krankheiten und Symptomen geschlechtsspezifische Unterschiede geben kann: Neun von zehn Deutschen wissen, dass Männer für bestimmte Erkrankungen ein anderes Risiko haben als Frauen. Mehr als acht von zehn Menschen sind zudem überzeugt, dass auch Krankheitssymptome geschlechterspezifisch sind. Gleichzeitig erhalten 67 Prozent der 1.000 Befragten von Ärzten keine Informationen über unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten auf Frauen und Männer. Aus Sicht der Befragten wird dies weder in der Forschung noch im Arztgespräch ausreichend berücksichtigt.

82 Prozent der Befragten erwarten generell mehr Informationen, wie sich Symptome bei Erkrankungen wie zum Beispiel beim Herzinfarkt je nach Geschlecht unterscheiden. Auch die Pharmaindustrie sollte nach Ansicht von 87 Prozent der Deutschen ihre Packungsbeilagen anpassen und dort klar auf die Unterschiede bei der Verwendung durch Männer und Frauen hinweisen. 86 Prozent der Befragten sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, klare Vorgaben zu einer geschlechterangepassten Gesundheitsversorgung zu machen. 

Medizin im Wandel

„Hier wird sich erst etwas verändern, wenn es klare Regularien gibt. Beispielsweise muss die Politik dafür sorgen, dass nur noch Studien finanziert werden, die das Geschlecht berücksichtigen“, erklärt Oertelt-Prigione. „Dort wo die Datenlage bereits gut ist, wie in der Kardiologie, können Leitlinienveränderungen angeschoben und Therapien geschlechterspezifisch angepasst werden.

Im Gespräch mit Ärzten wird besonders von Frauen mangelnde Transparenz beklagt: Nur 26 Prozent sagen, ihr Arzt habe sie über die unterschiedlichen Wirkungen von Medikamenten aufgeklärt – im Unterschied zu 40 Prozent der Männer. Insgesamt haben zwei Drittel der befragten Frauen und Männer keine entsprechende Auskunft bei der ärztlichen Behandlung erhalten. 83 Prozent wünschen sich deutliche Hinweise von Medizinern, wenn noch unklar ist, ob Medikamente auf Männer und Frauen unterschiedlich wirken. Nur 33 Prozent sagen, ihr Arzt habe mit ihnen darüber gesprochen.“

Der Wandel zur personengerichteten Medizin mit dem Ziel, einen kooperativen Prozess zwischen Patienten und Ärzten zu schaffen, beginne erst. „Dafür müssen die Medizinerinnen und Mediziner ihre Deutungshoheit aufgeben und die Expertise ihrer Patientinnen und Patienten für die eigene Gesundheit wahrnehmen“, sagt Oertelt-Prigione. „Andere Länder wie die Niederlande, Kanada oder Großbritannien sind da weiter. Die jüngere Generation treibt diesen Wandel auch bei uns in Deutschland voran.“

Gleichbehandlung in der Medizin wünschenswert

Auch Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, sieht noch viel Potenzial beim Thema Gendermedizin: „Frauen sollen die gleichen Rechte und Chancen haben. In einem Bereich ist eine Gleichbehandlung allerdings nicht immer wünschenswert: in der Medizin. Denn das Geschlecht beeinflusst über genetische, epigenetische und hormonelle Faktoren die Funktionsweise des Organismus. Zudem spielt das soziale Geschlecht beim Gesundheitsverhalten und dem Zugang zur Gesundheitsversorgung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Geschlechtsunterschiede können sich im Erkrankungsrisiko, der Symptomatik, dem Ansprechen auf die Therapie und dem Krankheitsverlauf niederschlagen.“ 

Studien zeigen, dass Frauen bei einem Herzinfarkt seltener und mit größerer zeitlicher Verzögerung behandelt werden und dadurch eine schlechtere Prognose haben. Das liegt zum einen daran, dass Frauen oft weniger charakteristische Symptome zeigen, sodass der medizinische Notfall schwerer zu erkennen ist. Zum anderen neigen Frauen dazu, ihre Beschwerden zu unterschätzen und später Hilfe zu suchen. Das führt dazu, dass sie bei einem Herzinfarkt im Durchschnitt etwa eine Stunde später als Männer derselben Altersklasse in einer Klinik ankommen.

Auch die medizinische Forschung war lange Zeit überwiegend auf den männlichen Organismus ausgerichtet, weil Frauen im gebärfähigen Alter seltener in klinische Studien eingeschlossen wurden. Dadurch konnte zum Beispiel erst nach der Zulassung verschiedener Medikamente festgestellt werden, dass diese für Frauen größere Gesundheitsrisiken bergen als für Männer. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern müssen in der Forschung stärker berücksichtigt werden und diese Erkenntnisse auch in die medizinische Ausbildung und Versorgungspraxis einfließen.