Unter der Lupe: Marktcheck prüft Kijimea® Reizdarm Pro
Das Reizdarmsyndrom ist ein Volksleiden. Geschätzt 17 Prozent der Deutschen sind betroffen. Der Arzneimittelexperte Professor Gerd Glaeske berichtet in der Sendung „Marktcheck“, dass vor allem die Vielfältigkeit der Beschwerden bei den Betroffenen einen hohen Leidensdruck erzeuge. Es seien vor allen Dingen Bauchschmerzen, aber auch Durchfall oder Verstopfung. Eine Krankheit, die also viele haben – die Ursache ist jedoch unklar.
Zur Erinnerung: Die ROM-Kriterien
Nach den ROM-III-Kriterien von 2006 liegt ein Reizdarmsyndrom vor, wenn über die letzten drei Monate an mindestens drei Tagen im Monat Bauchschmerzen (abdominelle Schmerzen) bestehen, die mindestens zwei der nachfolgenden Bedingungen erfüllen:
- Sie bessern sich durch Defäkation,
- sie beginnen in Zusammenhang mit einer veränderten Stuhlform,
- sie beginnen in Zusammenhang mit einer veränderten Stuhlfrequenz.
Bereits 2016 wurden die ROM-III-Kriterien durch die ROM-IV-Kriterien abgelöst. Laut Pschyrembel sind diagnostische Kriterien des RDS:
- Wiederholte Bauchschmerzen mit mindestens 2 der folgenden Kriterien assoziiert
– Zusammenhang mit der Stuhlentleerung
– Änderung der Stuhlfrequenz
– Änderung der Stuhlkonsistenz - Beschwerden an mindestens 1 Tag/Woche in den letzten 3 Monaten
- Beginn der Beschwerden vor > als 6 Monaten
Marktführer Kijimea: Kapseln mit speziellen Bakterien
Kijimea® Reizdarm Pro soll bei Reizdarmbeschwerden helfen – der Originalton im YouTube-Spot: „Ständig Durchfall, Blähungen und Bauchschmerzen. Dann hat mein Arzt mir das neue Kijimea empfohlen. Meine Darmbeschwerden waren wie weg.“ – „Wie weg.“ – „Super Sache, dieses Kijimea® Reizdarm Pro.“ Das Präparat sei die „intelligente Weiterentwicklung von Kijimea® Reizdarm und „40 Prozent wirksamer“ (bezogen auf die Ansprechrate).
Belegt sieht der Hersteller Synformulas seine Aussagen durch eine Studie, die er selbst formuliert hat und die im „The Lancet Gastroenterology & Hepatology“ im April 2020 veröffentlicht wurde. Zur Erklärung: Kijimea® Reizdarm Pro enthält den hitzeinaktivierten Bakterienstamm Bifidobacterium bifidum HI-MIMBb75. Das Präparat ist nicht als Arzneimittel zugelassen, sondern als Medizinprodukt im Verkehr.
Kijimea ist das meistverkaufte Produkt im Bereich Darmgesundheit. Der Jahresumsatz lag 2019 bei knapp 40 Millionen Euro – allein in Deutschland. Umgerechnet 1,26 Euro pro Kapsel kostet „Kijimea® Reizdarm Pro“ – das mit Abstand teuerste Produkt, aber auch das bekannteste. Es will die Symptome mit speziellen Bakterien bekämpfen.
Experten äußern Kritik
Für das Fachmagazin „arznei-telegramm“ hat Chefredakteur Wolfgang Becker-Brüser mit seinem Team die Studien zu „Kijimea® Reizdarm Pro“ genau analysiert. Er ist selbst Arzt und Pharmakologe und sieht die Werbung kritisch. Es würden zwar Effekte nachgewiesen, aber die Beschwerden würden nur gelindert, und das nicht bei jedem.
Der Hersteller Synformulas gründet seine Werbung auf die Studie aus 2020, die er selbst beauftragt hat, und teilt mit: „Es konnte bei allen RDS-Symptomen (…) eine signifikante Verbesserung festgestellt werden. Diese Werte umfassen mit Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall und Verstopfung alle typischen Leitsymptome des RDS.“
Nur etwas besser als ein Placebo
„Signifikante Verbesserung“ bezeichnet einen rein statistischen Wert. Für die „Kijimea® Reizdarm Pro“-Studie hat eine Hälfte der rund 430 Probanden Kijimea-Kapseln eingenommen, die andere Hälfte ein wirkungsloses Placebo. Gesundheitswissenschaftler Professor Gerd Glaeske erklärt: „Wenn man Placebo und Kijimea vergleicht, sind die Placebo-Werte gerade mal 15 Prozent unter dem Kijimea-Wert. Das ist ein Bereich, der aus pharmakologischer, aus arzneimitteltherapeutischer Sicht eigentlich relativ wenig aussagt. Das heißt, wenn überhaupt, wirkt es ein bisschen besser vielleicht als Placebo.“ Man könne nicht darauf hoffen, dass Beschwerden „wie weg“ seien.
Alte Studie für neues Kijimea® Reizdarm Pro verwendet
Ärzte des Hamburger Israelitischen Krankenhauses haben die Studie durchgeführt. Marktcheck hat nachgefragt: Die Forscher halten die Werbung teilweise für überzogen. Nur bei einer kleinen Gruppe konnte eine Verbesserung erreicht werden. Bei zwei Dritteln der Anwender tue sich quasi gar nichts. Von der Werbeaussage, das neue „Kijimea® Reizdarm Pro“ sei „40 Prozent wirksamer“, distanziere man sich – das habe man gar nicht untersucht. Hier zieht der Hersteller eine andere Studie aus 2011 heran – zum Vorgängerprodukt „Kijimea® Reizdarm“. Diese sei ganz anders angelegt gewesen.
Medizinprodukte brauchen keine Zulassung
Diese Werbung ist möglich, weil „Kijimea® Reizdarm Pro“ als Medizinprodukt vertrieben wird. Anders als bei Arzneimitteln muss hier die Wirkung nicht nachgewiesen werden. Chefredakteur Wolfgang Becker-Brüser erklärt, bei Medizinprodukten könne der Hersteller eine Zulassung durch Behörden wie für Arzneimittel umgehen. Von der zuständigen Regierung Oberbayern erfährt Marktcheck: „Die klinische Bewertung (...) liegt in der Verantwortung des Herstellers. Eine behördliche Überprüfung analog eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens ist im Medizinprodukterecht nicht vorgesehen.“
Reizdarmsyndrom vom Arzt abklären lassen
Gesundheitswissenschaftler Professor Glaeske sieht die „Kijimea® Reizdarm Pro“-Werbung kritisch und rät Betroffenen, das Reizdarmsyndrom nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, sondern vom Arzt abklären zu lassen. Nur auf solche „Wunderpillen“ zu vertrauen, könne gefährliche Folgen haben, so Glaeske.