Johanniskraut oder Passionsblume? – Ein Social-Media-Fail von DocMorris erhitzt die Gemüter
Gegen den Herbstblues?
„Plagt der Herbstblues? Laif 900 kann mit der seit Jahrhunderten bewährten Kraft der Passionsblume gegen depressive Verstimmungen, Schlafstörungen und Angstgefühle helfen. Das rein pflanzliche Medikament ist gut verträglich und führt nicht zur Gewöhnung.“ Eine Anzeige mit diesem Wortlaut, die der Versandhändler Anfang der Woche bei Facebook und Instagram geschaltet hatte (und inzwischen überall entfernt wurde), sorgte für Kopfschütteln in den Facebook-Gruppen der Apotheker und PTA. Das Fertigarzneimittel Laif 900 Balance enthält nämlich – wie schon allein dem Packungsaufdruck sichtbar zu entnehmen ist – keinen Passionsblumenextrakt, sondern 900 mg Trockenextrakt aus Johanniskraut pro Filmtablette. „Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll“, äußerte sich eine PTA-Kollegin. Eine andere schrieb „… und das Schlimme ist, dass die Kunden dem WWW immer mehr glauben als uns – da können wir uns wieder den Mund fusselig reden, dass es sich sehr wohl um Johanniskraut handelt“.
Warum ist die fehlerhafte Werbung gefährlich?
Im Vergleich zu Fertigarzneimitteln mit Passionsblumen-Trockenextrakt, die keine bekannten Interaktionen mit anderen Arzneimitteln und ein geringes Nebenwirkungspotenzial besitzen, handelt es sich bei Johanniskraut um einen sogenannten CYP3A4-Induktor, der mit einer ganzen Reihe von Arzneimitteln teils schwerwiegende Wechselwirkungen (Wirkungsverminderung) eingeht. Auch das Nebenwirkungspotenzial von Johanniskraut bedarf einer umfassenden Beratung –, das sei der Anzeige von DocMorris keineswegs zu entnehmen, heißt es in den sozialen Netzwerken.
Was PTA über Johanniskraut wissen sollten
Johanniskraut (Hyperici herba) wird seit Ende der 1980er-Jahre als pflanzliches Antidepressivum eingesetzt. Als relevante Inhaltsstoffe haben sich vor allem Hypericin und Hyperforin, daneben Flavonoide und Procyanidine, herausgestellt. Hochdosierter, standardisierter Hypericum-Extrakt gilt heute als anerkannt wirksam bei leichten bis mittelschweren depressiven Störungen. Das Phytopharmakon wirkt dabei ähnlich wie chemisch-synthetische Antidepressiva: Es reguliert den aus der Balance geratenen Neurotransmitter-Haushalt.
Selbstmedikation bei leichten depressiven Episoden
Die bei mittelschwerer Depression indizierten Johanniskraut-Fertigpräparate sind inzwischen verschreibungspflichtig (z. B. Jarsin® Rx 300 mg, Laif® 900, Neuroplant®, Texx® RP 300 mg). Doch bei leichten depressiven Episoden (= leichte vorübergehende depressive Störungen) stehen für die Selbstmedikation ebenfalls hochdosierte, standardisierte Johanniskraut-Extraktpräparate zur Verfügung (z. B. Jarsin® 750 mg, Kira® 300 mg, Laif® 900 Balance, Neuroplant® Aktiv).
Wichtig für die Beratung
Kunden sollten wissen, dass Johanniskraut nicht sofort wirkt. Die Wirklatenz beträgt mindestens zwei Wochen. Johanniskraut-Präparate sind zwar meist besser verträglich als chemische Antidepressiva. Relevant ist jedoch das Wechselwirkungsspektrum. Aufpassen sollte man bei Kunden, die folgende Arzneimittel einnehmen: Antikoagulanzien vom Cumarin-Typ (z. B. Marcumar®), Ciclosporin, Digoxin, HIV-Proteasehemmer, Midazolam, Tacrolimus, Theophyllin. Bei Frauen, die hormonelle Kontrazeptiva einnehmen, sind Zwischenblutungen möglich. Die Sicherheit der Verhütung kann herabgesetzt sein.
Das Echte Johanniskraut ist eine mehrjährige Pflanze mit reich verzweigtem, zweikantigem Stängel und vielblütigen Rispen. Man findet die Staude derzeit an vielen Weg- und Wiesenrändern oder auf Ödland blühend an. Das Sammeln für die Teezubereitung wird jedoch nicht empfohlen. Zu groß sind die Schwankungen im Inhaltsstoffgehalt. Empfehlen Sie deshalb lieber standardisierte Extrakt-Phytopharmaka!
DocMorris & Co.
Versandhändler DocMorris betreibt Social-Media-Kanäle unter anderem bei Facebook und Instagram mit circa 120.000 Abonnenten. Betreut werden die Kanäle von offenkundig fachfremden Social-Media-Managern, unterstützt von einer PTA.
Der DocMorris-Mutterkonzern „Zur Rose“ ist schon seit einiger Zeit auf Einkaufs- bzw. Übernahmetour: Kurz vor dem Jahresende 2017 wurden der Eurapon Pharmahandel aus Bremen und die holländische Vitalsana B.V. übernommen. 2018 folgten Medpex und Apo-Rot. Außerdem übernahm der Konzern 2018 die spanische Promofarma, einen E-Commerce-Marktplatz für Gesundheits-, Kosmetik- und Körperpflegeprodukte, und im Juni 2020 folgte zuletzt erst die deutsche Versandapotheke Apotal. Da das in Deutschland geltende Fremdbesitzverbot die persönliche Haftung des Apothekeninhabers vorschreibt und die Übernahme deutscher Apotheken durch eine Kapitalgesellschaft verbietet, greift der Zur-Rose-Konzern bei den Übernahmen zu seltsam anmutenden Übernahme-Konstruktionen. Bei Eurapon hat man zum Beispiel nicht die Versandapotheke als solche, sondern „nur“ den Dienstleister Eurapon Pharmahandel übernommen. Bei der Übernahme von Apotal heißt es, man habe „die Versandaktivitäten der Online-Apotheke" übernommen.
Mit der kürzlich bekannt gegebenen Übernahme der TeleClinic durch den DocMorris-Mutterkonzern „Zur Rose“ wird die seit vielen Jahrhunderten bestehende Trennung von ärztlicher und apothekerlicher Tätigkeit faktisch aufgehoben. Verordner und derjenige, der Medikamente abgibt, ist zwar nicht dieselbe Person, aber beide arbeiten für denselben Mutterkonzern: Zur Rose. Die Gesundheitspolitik und die Ärzteschaft zeigt sich bislang entspannt und setzt auf das sogenannte Makelverbot, welches im Patientendaten-Schutz-Gesetz verankert ist. Dies, so heißt es, gelte auch zwischen der TeleClinic als Verordner und DocMorris als Arzneimitteldistributeur.