Warum sind die Grippeimpfstoffe knapp?
Irgendwie scheint es keinen Winter zu geben, in dem Grippeimpfstoffe nicht in irgendeiner Art medial präsent sind. Und zwar im negativen Sinne. So kam es in den vergangenen Jahren – zur Zeit des standardmäßigen dreifachen Grippeschutzes – rund alle fünf Jahre vor, dass das hauptsächlich zirkulierende Grippevirus nicht als Antigen im Impfstoff enthalten und der Schutz der Impfung folglich wenig effektiv war. Exakt dies wurde auch in der letzten Grippesaison beklagt: Vor dem B-Stamm Yamagata schützte nur die Vierfachimpfung, nicht jedoch die dreifache – die allerdings 2017/18 noch die meisten Patienten erhielten. Passte dann vielleicht in manchen Jahren zwar die Vakzine, so war man dennoch nicht gefeit vor Lieferschwierigkeiten seitens der Grippeimpfstoffhersteller. 2012 ist hier als besonders dramatisches Jahr in Erinnerung, als Novartis mit schweren Lieferproblemen bei seinen Grippeimpfstoffen kämpfte.
2018/19: Vierfach-Grippeimpfung erstmals Standard
In diesem Jahr sollte eigentlich alles besser sein. Die Ständige Impfkommission (STIKO) hatte sich im Januar 2018 nun doch explizit für einen tetravalenten Grippeschutz ausgesprochen, und der G-BA präzisierte daraufhin die Schutzimpfungs-Richtlinie. Dies geschah im April dieses Jahres. Aber dennoch ist auch 2018/19 der Wurm drin. Trotz – oder vielleicht gerade wegen der vierfachen Grippeimpfung. Der Spekulationen ob der ausverkauften Impfstoffe gibt es viele. Haben die Grippeimpfstoffhersteller vielleicht einfach zu wenig Impfstoff produziert?
PEI gibt zwei Millionen Impfdosen weniger frei als im Vorjahr
In der Tat lässt sich nicht leugnen, dass in der aktuellen Saison rund zwei Millionen Impfdosen weniger auf dem deutschen Markt sind als im Vorjahr. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) muss – bevor der Grippeimpfstoff ausgeliefert wird – jede Impfstoffcharge zunächst freigeben. Für 2018/19 waren dies 15,7 Millionen, während es 2017/18 noch 17,9 Millionen Impfdosen waren. Die Schuld scheint somit offensichtlich: Es wurde zu wenig Vakzine hergestellt. Das dementieren die großen Grippeimpfstoffhersteller Deutschlands jedoch unisono.
Mehr produziert und weniger da?
Die Grippeimpfstoffversorgung für Deutschland teilen sich drei große Hauptplayer: Glaxo SmithKline (GSK), Mylan und Sanofi-Pasteur. Sie betonen jedoch, dass sie im Vergleich zum Vorjahr die Impfstoffproduktion aufgestockt hätten: „Die diesjährige Mengenplanung lag mehrfach über der Planung der letzten Saison“, erklärt Sanofi-Pasteur, der Hersteller von Vaxigrip® Tetra. Wie kann das sein? Es wurde mehr produziert und es ist am Ende weniger da? Schwer vorstellbar – allerdings dennoch plausibel. Denn es fehlt ein großer Impfstoffhersteller im Grippewinter 2018/19: Seqirus. Der pharmazeutische Unternehmer hinter Afluria® und Berigripal® hat in der aktuellen Saison für den deutschen Markt keine Grippeimpfstoffe bereitgestellt (Anmerkung: Seqirus ist auch der Hersteller von Fluad®, einem trivalenten adjuvantierten Impfstoff, der ab einem Alter von 65 Jahren zugelassen ist, diesen gab es auch 2018/19. Nach Angaben von Seqirus entfallen jedoch auf Fluad® nur geringe Marktanteile).
Afluria® und Berigripal® fehlen
Seqirus war im letzten Winter noch mit 4,8 Millionen Impfdosen vertreten. Warum produzierte der pharmazeutische Unternehmer keinen Grippeimpfstoff für 2018/19? Der Grund leuchtet ein: Afluria® und Berigripal® sind lediglich trivalente Vakzine, einen hühnereibasierten vierfachen Grippeschutz hat Seqirus nie entwickelt. Als die Entscheidung anstand, ob Seqirus auf viervalente Varianten von Afluria® und Berigripal® umstellt, hat sich der Unternehmer bewusst dagegen entschieden – und auf die Entwicklung eines zellbasierten Grippeimpfstoffs gesetzt. Aktuell werden die Grippeimpfstoffe in Deutschland in vorbebrüteten Hühnerembryonen hergestellt. Seqirus zellbasierte Vakzine ist mittlerweile auch recht weit gediehen – erst jüngst sprach der Humanarzneimittelausschuss (CHMP) bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA die Zulassungsempfehlung für die neue Grippevakzine aus. Seqirus rechnet noch 2018 mit der Zulassung der neuen Influenzavakzine durch die Europäische Kommission und will im nächsten Winter wieder mit Impfstoffen am Markt vertreten sein.
Millionen Impfdosen werden jährlich entsorgt
Somit stimmen jedoch die Aussagen der Hersteller, dass sie tatsächlich mehr Influenzavakzine produziert haben als im Vorjahr – sie wussten, dass Afluria® und Berigripal® fehlen würden und haben versucht, dies zu kompensieren. Doch offenbar hat diese Kompensation nicht gereicht. Doch kann man den Impfstoffherstellern hier tatsächlich einen Vorwurf machen? Denn schaut man sich die Zahlen der in den vergangenen Jahren produzierten Grippeimpfstoffe an und vergleicht diese mit den tatsächlich verabreichten – so klafft jedes Jahr eine nicht gerade unerhebliche Lücke: Im letzten Jahr hat das PEI 17,9 Millionen freigegeben, abgerechnet wurden deutlich weniger, nämlich rund 12,256 Millionen. Was heißt: Deutschland hatte in der vergangenen Saison tatsächlich Grippeimpfstoffe übrig, die in die Mülltonne gewandert sind. Auch GSK erklärt, dass das Unternehmen „im vergangenen Jahr unverkaufte Mengen auf eigene Kosten entsorgen musste“.
In der aktuellen Saison gab es mit 15,7 Millionen Impfdosen vor allem immer noch 3,6 Millionen mehr Impfdosen, als letztes Jahr verimpft wurden. Und die vergangene Grippesaison stellt bezüglich der schlechten Impfquote mitnichten eine Ausnahme dar. Zwar wurde im Laufe der letzten zehn Jahre die Produktion an Grippeimpfstoffen zurückgefahren – und doch gab es in jedem Jahr immer mehr Grippeimpfstoff, als tatsächlich benötigt wurde.
Grippesaison | Freigegebene Impfstoffe PEI (Mio) | Abgabe Impfstoffe (Mio) |
---|---|---|
2012/13 | 17,1 | 14,317 |
2013/14 | 21,8 | 13,82 |
2014/15 | 17,5 | 13,517 |
2015/16 | 20,9 | 13,417 |
2016/17 | 16 | 13,639 |
2017/18 | 17,9 | 12,256 |
2018/19 | 15,7 | Noch keine Daten |
Quelle: IMS PharmaScope®Vaccine |
Die Daten umfassen die Impfstoffabgaben der Apotheken für den GKV-Markt, Privatrezepte und Barverkäufe auf Basis der Abgaben der öffentlichen Apotheken. Datenbasis für den GKV-Markt sind von den Apothekenrechenzentren getätigte GKV-Abrechnungen. Der Anteil der Privatrezepte und Abgaben ohne Rezept werden auf Basis einer Stichprobe von rund 4.000 Apotheken erhoben. Zusätzlich werden die Aktivitäten von so genannten Impfstoffgroßhändlern berücksichtigt.
Vor allem in den Grippewintern 2013/14 mit 7,98 Millionen und 2015/16 mit 7,483 Millionen Impfdosen hatte man hohe Verwürfe. Ob diese alle der Pharmaindustrie zugeschrieben werden können, bleibt natürlich fraglich – denn auch die Retourenregelungen der Apotheken mit den Herstellern sind meist wenig entgegenkommend. Was bedeutet: Haben Ärzte oder Apotheker am Ende einer Grippesaison Grippeimpfstoffe übrig, bleiben sie in der Regel ebenso darauf sitzen wie die Pharmaindustrie auch. Wem also einen Vorwurf machen? Den Herstellern, dass sie nicht ins Blaue einfach mehr produzieren oder den Apotheken, die sich dann teilweise mit Vorbestellungen schwer tun – ebenso die Ärzte? Alle drei Gruppen vereint, dass sie in einem sensiblen Markt – dem der Arzneimittel – agieren und dort ihr Geld verdienen. Doch auch wenn Arzneimittel keine „gewöhnliche Ware“ sind und weder Ärzte und Apotheker noch pharmazeutische Unternehmer ausschließlich finanzielle Aspekte vor Augen haben sollten, so sind es dennoch Unternehmen, die eben auch wirtschaftlich agieren müssen.
Mehr Impflinge in diesem Winter?
Beklagte man in den letzten Jahren stets eine miserable Impfquote (aktuellste Zahlen: Impfquote 34,8 Prozent der über 60-Jährigen, 2015/16), so hat man in diesem Jahr den Eindruck, dass sich tatsächlich mehr Menschen vor Grippe schützen möchten als sonst. Es mag zu bezweifeln sein, dass die jahrelangen Impfkampagnen plötzlich Früchte tragen. Möglich wäre jedoch, dass durch die mediale Präsenz der Grippe und vor allem der Dreifach- versus der Vierfach-Grippeimpfung im letzten Jahr viele Menschen den Grippeschutz in diesem Winter einfach präsenter hatten. Zumal es ja jetzt auch endlich die „bessere“ tetravalente Impfung gibt, für alle und nicht nur für Privatpatienten. Auch kann die heftige Influenzasaison 2017/18 ihren Beitrag pro Impfung geleistet und doch manchen Bürger überzeugt haben, dass eine Grippeimpfung weit weniger dramatisch ist als eine tatsächlich durchlebte Virusgrippe. Um noch einen psychologischen Aspekt einfließen zu lassen: Es scheint bei den Menschen tief verwurzelt zu sein, dass Dinge, die knapp sind, offenbar auch besonders wertvoll sind. Dass Grippeimpfstoffe knapp werden könnten, zeichnete sich bereits sehr früh und zu Beginn der neuen Impfsaison ab. Dieses Verknappungsszenario und das drohende Fehlen der Influenzavakzine kann durchaus manchen Patienten gedanklich „beschleunigt“ haben, doch schnell noch einen Impftermin beim Arzt zu vereinbaren – bevor alles weg ist.