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Nebenwirkung Depression: Diese Arzneimittel sind riskant!

Bild: sdominick - iStockphoto.com

Der Spiegel titelte am 16. Juni 2018 „Wenn Pillen auf die Seele schlagen“ und kommt im Text zu einem prägnanten Fazit: „Eine junge Frau kämpft verzweifelt gegen ihre Schwermut, schluckt Antidepressiva, erforscht ihr Innerstes – und nimmt weiterhin die Pille. Das ist so, als würde man einen Patienten, der über ein Stechen im Fuß klagt, einfach operieren, ohne zuvor zu überprüfen, ob er vielleicht nur einen Stein im Schuh hat.“ Diese Metapher bringt den Sachverhalt um Arzneimittel, die Depressionen auslösen können, anschaulich auf den Punkt, lässt aber offen, ob der Stein im Schuh – also die Pille – letztlich das ursächliche Problem ist. Diese Frage bleibt auch für die Forscher von der University of Illinois at Chicago, Autoren der kürzlich im Journal JAMA erschienenen Studie zum Thema „Depression als potenzielle Arzneimittelnebenwirkung“, offen.

Eine Botschaft, die die Universität in einer Pressemitteilung zur Studie aber verbreiten möchte, ist: Mehr als ein Drittel der US-Amerikaner (37,2 Prozent) könnten verschreibungspflichtige Arzneimittel einnehmen, die das Risiko einer Depression potenziell erhöhen. Dabei geht es um häufig eingesetzte Wirkstoffe, die auf den ersten Blick nicht mit Depressionen in Verbindung gebracht werden. Dadurch seien sich weder die Patienten, noch die Heilberufler der Risiken immer bewusst. 
Bevor die Wissenschaftler zu diesem Fazit kamen, hatten sie zwischen 2005 und 2014 retrospektiv das Nutzungsmuster von Arzneimitteln bei mehr als 26.000 US-amerikanischen Erwachsenen untersucht. Die Daten waren im Rahmen der „National Health and Nutrition Examination Survey“ (NHANES) gesammelt worden. Insgesamt berichteten 7,6 Prozent der Probanden von Depressionen.

Mehr als 200 häufig verordnete Arzneimittel betroffen

Mehr als 200 häufig verordnete Arzneimittel sind der Pressemitteilung zufolge mit Depression und Suizid als mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen in der Software Micromedex gelistet. Dazu gehörten beispielsweise hormonelle Verhütungsmittel, Blutdruck- und Herzmedikamente (z.B. Metoprolol, Atenolol), Protonenpumpeninhibitoren (z.B. Omeprazol), Antazida und Schmerzmittel (z.B. Hydrocodon). 
In der JAMA-Studie selbst werden in der Einleitung einige Studien genannt, die bereits zuvor den Zusammenhang zwischen Arzneimittelklasse und Depression untersucht haben. Dabei sei die Interferon-alfa-Behandlung einer Hepatitis C einheitlich mit milden bis moderaten Formen der Depression in Zusammenhang gebracht worden – sie soll sich bei 45 bis 60 Prozent der Patienten entwickeln. Moderate bis schwere Depressionen entwickelten sich hingegen bei 15 bis 40 Prozent der Patienten unter Interferon-alfa-Behandlung. Eine entsprechende Warnung findet man auch in der deutschen Fachinformation. Dagegen sei die Evidenz bezüglich eines Zusammenhangs von ß-Blockern und Depression beziehungsweise Suizid weniger konsistent. 
Insgesamt wurden fünf 2-Jahres-Zyklen (von 2005/2006 bis 2013/2014) der „National Health and Nutrition Examination Survey“ (NHANES) analysiert. Die Probanden waren im Mittel rund 46 Jahre alt, rund 51 Prozent waren Frauen.

Polypharmazie soll Depressionsrisiko erhöhen

Der Pressemitteilung zufolge sei die Studie die erste, die zeige, dass betreffende Arzneimittel oft gleichzeitig – also im Rahmen der Polypharmazie – zum Einsatz kommen und dass der kombinierte Einsatz die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Depression erhöhe. 
Die Ergebnisse blieben den Forschern zufolge weiter bestehen, wenn sie Patienten aus der Auswertung ausschlossen, die mit Psychopharmaka behandelt wurden. Studienautor Dima Qato betrachtet das als wichtigste Schlussfolgerung der Studie: „Die Take-away-Message ist, dass Polypharmazie depressive Symptome hervorrufen kann und dass Patienten und Gesundheitsberufe sich des Depressionsrisikos bewusst sein müssen, das alle möglichen verschreibungspflichtigen Arzneimittel mit sich bringen – manche davon sind sogar ohne Rezept erhältlich.“ 
Ungefähr 15 Prozent der Erwachsenen, die in der Studie drei oder mehr entsprechende Arzneimittel gleichzeitig anwendeten, litten während der Einnahme an Depressionen. Dagegen litten nur rund 5 Prozent an Depressionen, wenn keines der entsprechenden Arzneimittel zum Einsatz kam, und 7 Prozent, wenn ein entsprechendes Arzneimittel angewendet wurde. Wurden zwei der entsprechenden Arzneimittel zusammen eingenommen, litten 9 Prozent unter Depressionen.

Die Nebenwirkung „Depression“ in den deutschen Fachinfos

Welche Arzneimittelkombinationen sind dabei besonders betroffen? In der folgenden Tabelle finden Sie einen Auszug aus den 30 am häufigsten genutzten Kombinationen verschreibungspflichtiger Arzneimittel, die Depressionen auslösen können, bei US-amerikanischen Erwachsenen zwischen 2005-2014 (Quelle: JAMA) - mit Blick auf die Nebenwirkungen laut deutscher Fachinformation.

 Zahl der ProbandenGeschätzte Prävalenz einer Depression[%]Nebenwirkungen laut deutscher Fachinformation
Metoprolol / Alprazolam4352,0

Metoprolol: gelegentlich depressive Verstimmungszustände

Alprazolam: häufig Depression, Benzodiazepine können bei bestehender Depression Risiko eines Suizids erhöhen

Alprazolam / Gabapentin2850,8Gabapentin: häufig Depression, Warnhinweis: Patienten hinsichtlich Suizidgedanken überwachen
Metoprolol / Zolpidem3240,4Zolpidem: häufig Depression, kann bei bestehender Depression Suizidgefahr erhöhen
Omeprazol / Alprazolam 3139,8Omeprazol: selten Depression
Gabapentin / Esomeprazol3337,1Esomeprazol: selten Depression
Omeprazol / Zolpidem2737,1siehe oben
Gabapentin / Tramadol4632,0Tramadol: selten Ängstlichkeit und Albträume
Omeprazol / Gabapentin8729,8siehe oben
Metoprolol / Gabapentin7924,6siehe oben
Metoprolol / Ibuprofen3121,4Ibuprofen: sehr selten Depression
Omeprazol / Tramadol5618,3siehe oben
Metoprolol / Enalapril5316,9Enalapril: häufig Depressionen
Metoprolol / Tramadol4616,0siehe oben
Omeprazol / Finasterid 3315,8 (Männer)Finasterid: gelegentlich Depression, Warnhinweis: Patienten sollten hinsichtlich psychiatrischer Symptome überwacht werden.

Die Polypharmazie nimmt zu

Laut Studienautor Dima Qato zeichnet sich in der Studie ein Trend ab, der zeigt, dass entsprechende Arzneimittel immer häufiger im Rahmen der Polypharmazie eingesetzt werden. Zwischen 2005 und 2006 wurden innerhalb der Studie bei 35 Prozent der eingesetzten verschreibungspflichtigen Arzneimittel als potenzielle Nebenwirkungen Depressionen festgestellt. Zwischen 2013 und 2014 stieg dieser Anteil auf 38 Prozent. Auch der Einsatz von Protonenpumpeninhibitoren und H2-Antagonisten – die potenziell Depressionen auslösen können – stieg im selben Zeitraum ungefähr von 5 auf 10 Prozent an. Der gleichzeitige Einsatz von drei oder mehr Arzneimitteln stieg ungefähr von 7 Prozent auf 10 Prozent. 
Bei den Arzneimitteln, bei denen Suizid als mögliche Nebenwirkung gelistet wurde, nahm der Einsatz von rund 17 Prozent auf 24 Prozent zu. Der gleichzeitige Einsatz von drei oder mehr Arzneimitteln stieg in dieser Gruppe von rund 2 Prozent auf 3 Prozent.

Grenzen der Studie

Weil es sich bei der NHANES um eine Querschnittsstudie handelt, kann zwischen Arzneimittelanwendung und depressiven Symptomen kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden. 
In der Studie wurden Arzneimittel mit Hilfe der Datenbank Micromedex auf ihre depressiven Nebenwirkungen hin identifiziert. Für die Vollständigkeit dieser Datenbank können die Forscher nicht garantieren: So seien beispielsweise nicht alle Calciumkanalblocker gelistet, obwohl es Hinweise gibt, dass sie mit Depressionen assoziiert werden (In deutscher Fachinfo: Nebenwirkung Depression „gelegentlich“). Die Ergebnisse könnten den tatsächlichen Effekt zudem unterschätzen, weil nur verschreibungspflichitge Arzneimittel untersucht wurden. 
Die NHANES lässt es zudem nicht zu, eine eventuelle Vorbelastung durch Depressionen zu berücksichtigen. Eine Depression als Nebenwirkung kann deshalb nicht klar von einer nicht Arzneimittel-induzierten Depression unterschieden werden. Zudem wurde in der Studie nicht überprüft, ob Leber- und Nierenfunktion normal waren. Substanzfehlgebrauch oder -missbrauch wurden auch nicht erfasst. Genauso bleibt unklar, ob die zugrunde liegenden Krankheiten statt der Arzneimittel zur Depression führen können.