Thrombosegefahr bei schwerem COVID-19: Was macht SARS-CoV-2 mit dem Blut?
Die Inzidenz einer akuten Lungenembolie, einer tiefen Beinvenenthrombose, eines ischämischen Schlaganfalls, eines Herzinfarkts oder systemischen arteriellen Embolien liegt bei COVD-19-Intensivpatienten bei bis zu 49 Prozent. Die Pathophysiologie von COVID-19-assoziierten thromboembolischen Ereignissen scheint komplex und multifaktoriell zu sein. Nur bei schwerer Krankheitsverschlechterung tritt eine offene disseminierte intravasale Koagulation (DIC) auf – ein lebensbedrohlicher Zustand, bei dem die Blutgerinnung übermäßig stark abläuft und massiv Gerinnungsfaktoren verbraucht werden, sodass letztendlich eine Blutungsneigung resultiert. Was macht SARS-CoV-2 mit dem Blut? Wie hängt die Immunantwort auf SARS-CoV-2 mit dem hämostatischen System zusammen?
Thrombozyten im Visier
Der Antwort auf diese Frage kamen Tübinger Wissenschaftler der Forschungsgruppe um Taman Bakchoul und Peter Rosenberger nun ein Stück näher. Sie veröffentlichten ihre Arbeit vor kurzem im Fachjournal „Blood“. Während sich bislang die meisten klinischen Berichte über COVID-19-assoziierte Gerinnungsstörungen auf das plasmatische Gerinnungssystem (Gerinnungsfaktoren) konzentrierten, nahmen die Tübinger Forscher nun die Thrombozyten ins Visier: So könnte bei schwer kranken COVID-19-Patienten das durch programmierten Zelltod (Apoptose) der Thrombozyten freigelegte Phosphatidylserin (ein Bestandteil der Thrombozytenmembranen) ein „Initialzünder“ für mehrere Gerinnungsfaktoren und verantwortlich für die unkontrollierte Aktivierung des Gerinnungssystems sein.
Zur Erinnerung: Bestandteile der Blutgerinnung
Die Hämostase (Blutgerinnung) lässt sich vereinfacht in zwei Vorgänge teilen:
- Bei der primären Hämostase spielen die Thrombozyten eine wesentliche Rolle, sie machen einen ersten Wundverschluss.
- Dieser wird in einem zweiten Schritt – der sekundären Hämostase (plasmatisch) – mittels Fibrin gefestigt, bei diesen Vorgängen sind die Gerinnungsfaktoren beteiligt.
Viren beeinflussen Thrombozyten
Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass Virusinfektionen systemische Entzündungen verursachen, die sich auch auf die Aktivität von Thrombozyten auswirken. Und Thrombozyten sind bei weitem nicht nur für die Blutgerinnung verantwortlich: Sie fungieren als „effektive Wächter, die ständig in den Gefäßen unterwegs sind und eindringende Krankheitserreger schnell wahrnehmen und darauf reagieren“, schrieben Wissenschaftler um Li Guo 2019 im Fachjournal „Frontiers in Immunology“. Sie fungierten somit als Brücke zwischen hämostatischen, entzündlichen und immunologischen Vorgängen.
Beeinflusst COVID-19 die Thrombozyten und das Gerinnungssystem?
Die Tübinger Wissenschaftler stellten sodann die Hypothese auf, dass die bei COVID-19-Patienten auf der Intensivstation beobachteten Gerinnungsstörungen mit einer verstärkten Thrombozyten-Apoptose und nachfolgenden Veränderungen des Gerinnungssystems einhergehen. Laut Prof. Tamam Bakchoul – Ärztlicher Direktor des Instituts für Klinische und Experimentelle Transfusionsmedizin (IKET) am Universitätsklinikum Tübingen – beginnt eine erhöhte Aktivierung des Gerinnungssystems bei COVID-19-Patienten regelhaft vier Tage nach stationärer Aufnahme. „In Blutanalysen von intensivpflichtigen Patienten mit schwerer COVID-19-Infektion haben wir gesehen, dass bei ihnen die Blutgerinnselbildung kürzere Zeit benötigt und die Gerinnungsfaktoren stärker aktiviert werden als bei anderen stationären Patienten.“
Thrombozyten gehen vermehrt in den Zelltod
In der Tat fanden die Forscher um Bakchoul Hinweise, dass bei Thrombozyten von Patienten mit schwerem, intensivpflichtigen COVID-19 Apoptosemarker hochreguliert sind. Sie hatten dafür das Blut von 21 COVID-19-Patienten auf Intensivstation untersucht und es mit intensivpflichtigen Nicht-COVID-19-Patienten (teilweise mit Sepsis) und gesunden Spendern verglichen. Sie untersuchten sodann
- die Auswirkungen der Apoptosemarker auf die Thrombozytenzahl,
- den SOFA-Score (Sepsis-related Organ Failure Assessment Score: Maß, um das Organversagen bei Sepsis zu beurteilen),
- die D-Dimere (Thrombosemarker, siehe Infokasten)
- und die COVID-19-Antikörper am Tag der Blutentnahme.
Was sind D-Dimere?
Kommt es zu ungewollten Blutgerinnseln (Thrombosen), versucht der Körper einem Verstopfen von Blutgefäßen entgegenzuwirken, indem er versucht, den Pfropf wieder aufzulösen. Beim Abbau der Blutgerinnsel wird Fibrin frei. Wird dieses Fibrin weiter abgebaut, entstehen die sogenannten D-Dimere. D-Dimere entstehen folglich als letzte Abbauprodukte von aufgelösten Blutgerinnseln und dann in großer Menge. Ist ihr Wert im Labor erhöht, dienen sie – in Verbindung mit Symptomen einer Thrombose – als Hinweis auf eine Thromboembolie.
Erhöhte Thrombozyten-Apoptosemarker bei COVID-19-Patienten
Alle drei Apotosemarker (mitochondriales inneres Transmembranpotenzial, zytosolische Calciumkonzentration, Externalisierung von Phosphatidylserin in den Thrombozyten) waren bei COVID-19-Patienten im Vergleich zu anderen Intensivpatienten und Gesunden erhöht.
Apoptose aktiviert das Immunsystem
Gehen Zellen in den programmierten Zelltod, wird das Immunsystem aktiviert, um die sterbenden Zellen zu eliminieren. Dabei spielen Phagozyten eine wichtige Rolle und verschiedene von der sterbenden Zelle freigesetzte Substanzen, die ihre „Clearance“ – ihre Beseitigung – organisieren. Diese Mechanismen beeinflussen das Immunsystem und bestimmen das Ausmaß der Immunaktivierung und Entzündung.
Erhöhte Phosphatidylserin-Externalisierung: mehr Thrombosen und mehr Organversagen
Zeigten die Thrombozyten von COVID-19-Patienten eine erhöhte Phosphatidylserin-Externalisierung – also eine Verlagerung des Membranbestandteils nach außen –, hatten die Patienten auch ein erhöhtes Risiko für Organversagen (SOFA-Score). Zudem wiesen COVID-19-Patienten, die eine Thrombose entwickelten, auch eine „signifikant höhere Phosphatidylserin-Externalisierung“ auf als COVID-19-Patienten ohne Thrombose. Insbesondere fanden die Forscher aber, dass der Antikörper-vermittelte Zelltod von Thrombozyten bei COVID-19-Patienten deren thromboembolisches Risiko erhöhte.
Die Studie
In der Tübinger Studie wurde das Blut von 21 COVID-19-Patienten auf Intensivstation untersucht, 18 Patienten waren männlich (86 Prozent), im Mittel waren sie 60 Jahre alt (29 bis 88 Jahre). Von den 21 COVID-19-Patienten hatten 15 (71 Prozent) Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf: 14 Patienten litten an Bluthochdruck (67 Prozent), Adipositas lag bei vier Patienten vor (19 Prozent), eine koronare Herzkrankheit war ebenfalls bei vier Patienten diagnostiziert (19 Prozent) und Diabetes mellitus bei fünf (24 Prozent). Als Blutproben zur Kontrolle nutzten die Tübinger Blut von Intensivpatienten (teilweise mit Sepsis) und Gesunden.
Antikörper aus COVID-19-Blut initiieren auch bei Gesunden Thrombozyten-Apoptose
Am wichtigsten ist laut den Forschern, dass Seren und Immunglobulin (IgG)-Fraktionen, die von COVID-19-Patienten isoliert wurden, auch in der Lage waren, Apoptose in Thrombozyten von gesunden Spendern zu induzieren. Die Daten deuten darauf hin, dass Antikörper schwer erkrankter COVID-19-Patienten prokoagulierende Thrombozyten induzieren, die zum erhöhten Risiko für thromboembolische Komplikationen beitragen könnten, erklären die Wissenschaftler in „Blood“. Doch was machen die Antikörper mit den Thrombozyten?
Binden SARS-CoV-2-Antikörper auch an Thrombozyten?
Die Tübinger Forscher konnten auch bestätigen, dass bei schweren COVID-19-Verläufen das Immunsystem der Patienten mit einer überschießenden und unkontrollierten Immunantwort (Zytokinsturm) auf das Entzündungsgeschehen reagiert (Thrombo-Inflammation). Der Körper produziere unkontrolliert SARS-CoV-2-Antikörper, wobei viele der Antikörper ohne klare Bindungsstelle seien. „Wir vermuten, dass Antikörper eine ähnliche Bindungsstelle an die Oberfläche von Thrombozyten wie an die Oberfläche von SARS-CoV-2-Viren haben“, erklärte Bakchoul gegenüber der Deutschen Herzstiftung e. V. Binden die Antikörper an die Blutplättchen, lösten sie dort komplexe Veränderungen aus, sodass es bei einem Teil der Blutplättchen zur Apoptose komme, beim anderen Teil veränderten die Thrombozyten ihre Zelloberfläche so, dass sie gerinnungsfördernde Faktoren freisetzten und Thrombosen förderten. „Je stärker also die Immunreaktion auf SARS-CoV-2 ausfällt, desto höher ist das Risiko der Thrombozyten-Aktivierung“, erklärt Bakchoul.
Höhere Sterblichkeit durch Thrombozyten-Apoptose?
Laut den Wissenschaftlern deuten ihre Daten darauf hin, dass die Thrombozyten-Apoptose sodann mit thromboembolischen Komplikationen und einer erhöhten Mortalität bei schwerem COVID-19 assoziiert sein könnte.
Hier sehen die Wissenschaftler Potenzial für neue Behandlungsoptionen für SARS-CoV-2-Infizierte. So könnte man versuchen, die Freisetzung der Thrombozyten zu unterbinden. „Unser Ziel ist es, COVID-19-Patienten bereits auf der Normalstation auf Gerinnungsparameter und Thrombozytenmarker zu untersuchen und mit entsprechender Dosierung prophylaktisch mit gerinnungshemmenden Medikamenten zu behandeln.“