Einzelfallbericht zu COVID-19 und MS: Kann SARS-CoV-2 eine MS-Erkrankung verschlimmern?
COVID-19 betrifft vornehmlich die Atemwege, verursacht aber auch Neurologische Symptome: „COVID-19 ist mit einem hohen Prozentsatz an neurologischen Manifestationen verbunden, und deren Bandbreite ist groß“, erklärte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), im August des letzten Jahres. Damals wurde eine spezielle S1-Leitlinie zu „Neurologischen Manifestationen bei COVID-19“ vorgestellt.
Gestörte Blut-Hirn-Schranke: Kommt SARS-CoV-2 leichter ins ZNS?
Was ist mit Patienten, die bereits an einer neurologischen Erkrankung leiden wie z. B. MS? Multiple Sklerose ist die häufigste Autoimmunerkrankung des ZNS (Zentralnervensystem). Entzündliche Demyelinisierung und Störungen der Blut-Hirn-Schranke (BHS) sind typische Merkmale der Erkrankung, die die Patienten zunehmend einschränken. Sind MS-Patienten anfälliger für neurologische Komplikationen oder verschlimmert eine SARS-CoV-2-Infektion die MS-bedingte Krankheitsaktivität? Und könnte die erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke bei MS-Patienten sogar begünstigen, dass SARS-CoV-2 leichter ins ZNS gelangt?
Fallbericht einer MS-Patientin mit COVID-19
Daten dazu sind rar, noch dazu widersprüchlich. Wissenschaftler der Neurologischen Kliniken der Universitätsmedizin Mannheim und des Universitätsspitals Basel suchten Antworten auf diese Fragen und untersuchten dafür das Gehirn einer mit COVID-19 verstorbenen 67-jährigen MS-Patientin. Den Fallbericht veröffentlichten sie im Fachjournal „Neurology: Neuroimmunology & Neuroinflammation“.
Hintergrundinformationen zur Patientin
Bei der verstorbenen Patientin (67 Jahre) wurde 1990 eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert. Sie erhielt seit 1996 eine immunmodulierende Behandlung mit Interferon-β, die sie vor drei Jahren absetzte. Ihre MS-Erkrankung verschlechterte sich klinisch, eine sekundär progrediente MS mit überlagerten Schüben wurde diagnostiziert. 2020 kam sie aufgrund eines Atemwegsinfekts mit Husten, Fieber und Atembeschwerden ins Krankenhaus, wo eine SARS-CoV-2-Infektion bestätigt werden konnte. Die Patientin erhielt versuchsweise Chloroquin und das Antibiotikum Cefepim gegen eine bakterielle Superinfektion. Eine mechanische Beatmung lehnte die Patientin ab, sodass sie 13 Tage nach dem Auftreten von COVID-19 an Atemversagen verstarb.
SARS-CoV-2 reaktivierte die MS nicht
Erwartungsgemäß fanden die Wissenschaftler um Vidmante Fuchs im Gehirn der verstorbenen MS-Patientin die typischen Anzeichen einer fortgeschrittenen MS: ausgeprägter Gehirnschwund in den Frontal- und Schläfenlappen, Schädigungen an für MS typischen Stellen und eine Demyelinisierung der Nervenfasern des Zentralnervensystems in den Bereichen der Läsionen. Alle ausgemachten MS-Läsionen stuften die Wissenschaftler als chronisch inaktiv ein: „Wir fanden weder Anzeichen einer aktiven Demyelinisierung noch einer Infiltration von Immunzellen“, erklärt PD Dr. Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim, einer der Studienautoren. Und weiter: „Daraus können wir sicher schließen, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 bei dieser Patientin nicht zu einer Reaktivierung der MS geführt hat.“
Blut-Hirn-Schranke verhindert das Eindringen von SARS-CoV-2
Die Wissenschaftler machten darüber hinaus eine weitere interessante Beobachtung: Obwohl die Blut-Hirn-Schranke (BHS) der MS-Patientin innerhalb oder in der Nähe der MS-bedingten Schädigungen durchlässiger war, fanden sie keine SARS-CoV-2-Transkripte im Hirngewebe der Verstorbenen. Doch konnten sie SARS-CoV-2-Bestandteile an der Grenzfläche zwischen Liquor und Hirngewebe nachweisen – und zwar sowohl bei der MS-Patientin mit COVID-19 als auch bei einer an COVID-19 Verstorbenen ohne MS-Erkrankung. Die Forscher schließen daraus, dass die BHS als wichtige Barriere fungiert, die verhindert, dass SARS-CoV-2 aus dem Blut ins Gehirn gelangt.
Keine Hinweise, dass sich MS verschlimmert
Nun könnte es sein, dass – aufgrund der bereits fortgeschrittenen COVID-19-Erkrankung – nach dem Tod der Erkrankten keine Viruspartikel mehr nachweisbar waren. Auch handelt es sich um einen Einzelfallbericht, der keine pauschale Prognose zulässt. Die Studienautoren geben zudem zu bedenken, dass es sich beim beschriebenen Fall um einen langjährigen, progredienten Krankheitsverlauf handelte. Künftig müssten Studien auch den Einfluss von SARS-CoV-2 auf MS-Patienten mit aktiver Erkrankung untersuchen.
Dennoch entwarnen die Ergebnisse, da die Wissenschaftler keine Hinweise darauf fanden, dass sich unter COVID-19 die MS-Erkrankung verschlimmert (Exazerbation) oder Läsionsherde reaktiviert wurden. Ihre Ergebnisse stünden im Einklang mit anderen Untersuchungen. So gibt es aus anderen Studien Hinweise, dass Patienten mit Autoimmunerkrankungen nicht häufiger wegen COVID-19 im Krankenhaus behandelt werden müssen als die Allgemeinbevölkerung.