Wann sollte man MS-Patienten gegen Corona impfen?
Die meisten Patienten mit Multipler Sklerose dürften krankheitsmodifizierende Arzneimittel (DMT: Disease-modifying Therapy) erhalten: Antikörper wie Natalizumab (Tysabri®), Ocrelizumab (Ocrevus®), Alemtuzumab (Lemtrada®) oder einen S1P-Modulator wie Fingolimod (Gilenya®) oder häufig auch Interferon. Die Wirkstoffe greifen modulierend in das Immunsystem ein und sollen dadurch das Fortschreiten von Multipler Sklerose bremsen. Reicht die „Restaktivität“ des Immunsystems, um nach einer Impfung einen Impfschutz aufzubauen? Kann sich trotz Immunsuppression nach einer COVID-19-Impfung ein guter Schutz gegen SARS-CoV-2 entwickeln? Und gibt es empfehlenswerte Impfabstände oder sollten MS-Patienten ihre Dauerbehandlungen mit Teriflunomid (Aubagio®), Glatirameracetat (Copaxone®) oder Interferon besser vor und nach der Impfung pausieren? Diese Fragen beschäftigten Professor Amit Bar-Or beim jüngst digital stattgefundenen ACTRIMS-Kongress 2021 (ACTRIMS: Americas Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) in seinem Vortrag „Vaccination Responses in Setting of Different Types of MS DMTs“. Die wohl wichtigste Botschaft vorweg: Multiple-Sklerose-Patienten sollten sich gegen COVID-19 impfen, auch unter MS-Therapie.
Gegen COVID-19 impfen auch unter Therapie
Laut Bar-Or stellen die in den USA zugelassenen COVID-19-Impfstoffe auch für Multiple-Sklerose-Patienten nur ein geringes bis gar kein Risiko dar und können zum Schutz vor COVID-19 geimpft werden – auch während einer Behandlung mit DMT. Zum Zeitpunkt des ACTRIMS-Kongresses Ende Februar waren lediglich die beiden mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer (Comirnaty®) und Moderna (COVID-19-Impfstoff Moderna) in den Vereinigten Staaten notfallzugelassen, die FDA erteilte die Genehmigung der Janssen COVID-19-Vakzine – der dritten Vakzine in den USA – erst am letzten Kongresstag.
Sind mRNA-Impfstoffe sicherer als traditionelle Impfstoffe?
Sorge haben Menschen mit MS vor allem, ob COVID-19-Impfstoffe Schübe auslösen oder die Wirksamkeit ihrer Arzneimittel beeinträchtigen und sich dadurch ihr Gesundheitszustand verschlechtert. Erkenntnisse zu mRNA-Impfstoffen gibt es kaum bis gar nicht, jahrelange Erfahrungen hat man jedoch mit Totimpfstoffen. Laut Bar-Or gibt es jedoch Grund zu der Annahme, dass die mRNA-Impfstoffe sogar sicherer sein könnten als frühere, traditionellere Impfstoffe. Vor allem: „Die Vorteile des Schutzes durch die COVID-19-Impfstoffe überwiegen bei weitem jedes Risiko, das man bei MS-Patient:innen mit Impfstoffen in Verbindung bringen würde.“ Diesen Standpunkt vertreten auch die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) und das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose, wie Bar-Or raten sie grundsätzlich zur COVID-19-Impfung von MS-Patienten.
Stellungnahme der DMSG und des KKNMS
Jüngst nahmen auch die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) und das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) Stellung zur Frage, ob sich MS-Patienten gegen COVID-19 impfen lassen sollen. „Grundsätzlich ist eine Impfung gegen das neuartige Corona-Virus (SARS-CoV-2) zu empfehlen“, erklären DMSG und KKNMS. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Impfung mit einem Totimpfstoff einen Schub auslöst, ist den Experten zufolge gering, hingegen sei bekannt, dass Infektionen Schübe triggern könnten: „Wir wissen, dass nach Infekten das Schubrisiko erhöht ist. Im Vergleich dazu ist das Schubrisiko nach einer Impfung sehr gering“, erklärten DMSG und KKNMS.
Im Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts vom 4. März 2021 zu den in Deutschland eingesetzten COVID-19-Impfstoffen gab es bislang zwei Meldungen von MS-Patientinnen nach Corona-Impfung. So berichteten zwei Patientinnen im Alter von 32 und 34 Jahren über eine Verschlechterung ihrer bestehenden MS zwei bis acht Tage nach Impfung mit Comirnaty®. Eine Kausalität ist bislang nicht nachgewiesen, das PEI erklärte dazu: „Bei keinem dieser unerwünschten Ereignisse unter Beobachtung überstieg aktuell die Anzahl der beobachteten Fälle die Anzahl der aufgrund der Hintergrundinzidenz in der Bevölkerung erwarteten Fälle, d. h. die Zahl der Meldungen lässt sich durch ein zeitlich zufälliges Zusammentreffen zwischen Impfung und Erkrankung interpretieren.“
Wirken die Impfstoffe überhaupt?
Daneben fürchten Patienten aber auch, dass ihre immunmodulierenden Arzneimittel die Wirksamkeit der COVID-19-Impfstoffe verringern und sie somit trotz Impfung nicht gut vor SARS-CoV-2 geschützt sind. Nach Einschätzung von Bar-Or sind die mRNA-Impfstoffe hinsichtlich möglicher Wechselwirkungen mit MS-Arzneimitteln jedoch sicher. „Es handelt sich nicht um Lebendimpfstoffe und nicht um inaktivierte Impfstoffe. Es gibt kein Risiko in Bezug auf Wechselwirkungen mit krankheitsmodifizierenden MS-Arzneimitteln“, sagte er. Es könnte allerdings sein, dass die Arzneimittel die Impfantwort individuell verringern, es sei jedoch „unwahrscheinlich“, dass der virale Schutz des Impfstoffs dadurch aufgehoben wird.
Das Timing ist wichtig
Sinnvoll kann jedoch ein gutes Timing der Impfung sein. Laut Bar-Or hängt nämlich die Auswirkung eines MS-Arzneimittels auf die Impfwirksamkeit davon ab, wo das MS-Medikament ins Immunsystem eingreift und wann es seine Wirkung entfaltet.
Drei Monate nach und vier Wochen vor Ocrevus®
Bei B-Zell-depletierenden Therapien, wie Ocrelizumab (Ocrevus®), empfiehlt Bar-Or eine COVID-19-Impfung mindestens zwölf Wochen nach der letzten Ocrevus®-Gabe und mindestens vier Wochen vor der nächsten Ocrevus®-Infusion (komplettes Impfschema abgeschlossen). Ocrelizumab erhalten MS-Patienten alle sechs Monate als intravenöse Infusion, sodass ihnen zwei Monate zwischen den Infusionen für Impfungen bleiben. Daten aus früheren Impfstoffuntersuchungen (Tetanus, Pneumokokken, Influenza) unter Ocrelizumab zeigten, dass Ocrevus® die „Immunantwort der Patienten auf den Impfstoff leicht abschwächte, jedoch nicht unter den für den Schutz erforderlichen Schwellenwert“, erklärte Bar-Or (siehe Infokasten).
Noch vor Ofatumumab-Zulassung impfen
Ocrelizumab richtet sich, wie auch das erst im Januar 2021 von der EMA zur Zulassung empfohlene Ofatumumab (Kesimpta®), gegen CD20+ B-Zellen. B-Zellen spielen aktuellen Erkenntnissen zufolge mit eine wichtige Rolle in der Pathogenese von MS. Anders als Ocrelizumab wird Ofatumumab (nach Aufdosierung) alle vier Wochen als subcutane Injektion verabreicht. Novartis rechnet im zweiten Quartal mit der Zulassung. Gut wäre folglich, wenn MS-Patienten, die fortan Ofatumumab erhalten sollen, bis vier Wochen vor Therapiebeginn vollständig gegen COVID-19 geimpft sind.
Daten zu Tetanus-, Pneumokokken- und Influenza-Impfungen
unter Ocrelizumab
Roche untersuchte die Impfeffektivität verschiedener Impfstoffe – Tetanus, Pneumokokken, Influenza – unter Ocrelizumab vs. Placebo oder Interferon. Acht Wochen nach Tetanusimpfung hatten 23,9 Prozent der Ocrelizumab-Patienten eine positive Immunantwort entwickelt, ohne krankheitsmodifizierende Therapie oder Interferon waren es 54,4 Prozent. Erhielten MS-Patienten einen 23-valenten Pneumokokken-Impfstoff (Pneumovax 23), ließ sich bei 71,6 Prozent der Geimpften eine positive Immunantwort gegen mindestens fünf Pneumokokken-Serotypen feststellen, in der Kontrollgruppe war dies bei 100 Prozent der Geimpften der Fall. Eine Boosterimpfung mit einem 13-valenten Pneumokokkenimpfstoff (Prevenar 13) verbesserte die Immunantwort nicht. Bezogen auf Grippe hatten 20 bis 60 Prozent der Ocrelizumabpatienten schützende Antikörper gegen fünf Influenzastämme, vier Wochen nach Impfung waren es 55,6 bis 80 Prozent. In der Vergleichsgruppe verbesserte sich der Influenzaschutz von 16,7 bis 43,8 Prozent vor Impfung auf 75 bis 97 Prozent nach Impfung.
COVID-19-Impfschema unter Lemtrada und Mavenclad
Auch für Alemtuzumab (Lemtrada®), ein CD52-Antikörper, der zur Depletion zirkulierender T- und B-Lymphozyten führt, und für Cladribin (Mavenclad®) sollten „wenn möglich“ die Impfungen mindestens vier Wochen vor Beginn einer Behandlung mit einem der beiden Wirkstoffe abgeschlossen sein. Erhalten MS-Patienten bereits Alemtuzumab oder Cladribin, sollten die Impfungen erst zwölf Wochen – idealerweise eher 24 Wochen – nach dem MS-Arzneimittel verabreicht werden. Alemtuzumab erhalten MS-Patienten an fünf aufeinanderfolgenden Tagen als intravenöse Infusion und sodann zwölf Monate später die zweite Gabe an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Laut Fachinformation treten die niedrigsten Werte an T- und B-Lymphozyten einen Monat nach einer Behandlungsphase auf, die Erholung der B-Zellen ist in der Regel innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen.
Cladribin erhalten MS-Patienten in zwei Behandlungsphasen innerhalb von zwei Behandlungsjahren: Eine Behandlungsphase besteht wiederum aus zwei Behandlungswochen (Cladribin-Gabe an vier bis fünf Tagen der Woche), eine zu Beginn des ersten Monats, eine zu Beginn des zweiten Monats des jeweiligen Behandlungsjahres. Nach Abschluss der zwei Behandlungsphasen ist in den Jahren drei und vier keine weitere Behandlung mit Cladribin erforderlich. Laut Fachinformation sollten Impfungen mit Lebend- oder Totimpfstoffen – mRNA-Impfstoffe sind allerdings weder Lebend- noch Totimpfstoffe – vermieden werden, solange die Lymphozyten nicht im Normbereich sind.
Keine Besonderheiten für Aubagio®, Tysabri®, Tecfidera®
Laut dem Neurologen gibt es keine empfohlenen Anpassungen für Patienten unter Behandlung mit Teriflunomid in Aubagio® (Dosierintervall: täglich), Natalizumab in Tysabri® (Dosierintervall: alle vier Wochen), Dimethylfumarat in Tecfidera® (Dosierintervall: täglich) oder Interferon beta-1a in z. B. Avonex® oder Rebif® (Dosierintervall: wöchentlich).
Was ist unter Gilenya® zu beachten?
Für Patienten, die noch keinen S1P-Rezeptormodulator (Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator) erhalten, rät Bar-Or dazu, das COVID-19-Impfschema mindestens vier Wochen vor Therapiestart mit Fingolimod (Gilenya®), Siponimod in Mayzent® oder Ozanimod (Zeposia®) abzuschließen. Nehmen MS-Patienten bereits eines der drei Arzneimittel ein, seien keine Anpassungen erforderlich. Fingolimod, Siponimod und Ozanimod sind orale MS-Therapien, die die Patienten täglich einnehmen. Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren binden als Antagonist an den S1P-Rezeptor der Lymphozyten und verhindern die Migration von Lymphozyten aus den Lymphknoten. „Dadurch wird eher eine Umverteilung als eine Depletion der Lymphozyten bewirkt“, erklärt Novartis in der Fachinformation zu Gilenya®. Die Folge ist jedoch auch, dass weniger T-Zellen in das Zentralnervensystem (ZNS) rezirkulieren und dadurch die Entzündung im ZNS begrenzt wird.
Impfschutz wichtiger als optimales Zeitfenster?
Bar-Or überlegte jedoch auch, ob die Notwendigkeit eines COVID-19-Schutzes die Bedenken hinsichtlich eines optimalen Timings letztlich übertrumpfen könnte. „Im Allgemeinen wird den Patienten empfohlen, sich impfen zu lassen, sobald der Impfstoff verfügbar ist, da es für sie wichtiger sein könnte, den Impfstoff zu bekommen, als zu versuchen, den Impfstoff zeitlich auf ihre DMT abzustimmen.“ Empfehlungen dazu hat auch die MS-Gesellschaft unter „National MS Society Urges DMT Dosing Changes for COVID-19 Vaccinations“ veröffentlicht.
Coronavirus-Impfverordnung: Wann sind MS-Patienten dran?
Die STIKO hat seit der zweiten Version ihrer Empfehlungen zur COVID-19-Impfung auch Raum für Härte- und Einzelfallentscheidungen geschaffen, der bei Vorerkrankten Impfungen auch in Stufe 2 („hohe Priorität“) ermöglicht: „Personen, bei denen nach individueller ärztlicher Beurteilung aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ein sehr hohes oder hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 besteht“, liest man in § 3 der Coronavirus-Impfverordnung, die am 8. Februar in Kraft trat. Wann fällt man unter diese bevorzugte Regelung?
Nach Einschätzung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) genügt bei MS-Patienten für eine vorrangige Impfung eine formlose ärztliche Bescheinigung über „das Bestehen einer entsprechenden Erkrankung im Sinne des Paragrafen x Ziffer y der Coronavirus-Impfverordnung“, je nach Priorisierungsstufe. Fallen MS-Erkrankte altersbedingt in eine der drei Gruppen, genügt ohnehin der Personalausweis.