Kryotherapie: Wie gesund ist Kälte?
Zum Wassertreten nach Sebastian Kneipp und kalten Sauna-Tauchbecken gesellen sich Eisbaden, Kältekammern und Eistonnen für den Garten – die Bedeutung der Kälteanwendungen wächst. Vor allem durch die sozialen Medien verbreitet sich der Hype, besonders seit Corona.
Kälte-Gurus wie der „Iceman“ Wim Hof vermarkten Bücher, Programme und zählen Millionen Follower zu ihrer Anhängerschaft. Und wofür das alles? Für einen gesunden Körper und Geist. Eisschwimmverbände verzeichnen einen rasanten Anstieg ihrer Mitgliederzahlen, Kältekammern schießen überall aus dem Boden.
Dabei soll eine regelmäßige Kälteanwendung nicht nur gesund und fit halten, sogar chronisch entzündliche Erkrankungen sollen mittels Kälte als Therapieoption gelindert werden. Heilung durch Frieren – was ist dran am Kälte-Hype?
Was ist eine Kryotherapie?
Sicher hat jeder schon einmal eine Verletzung, Schwellung, oder auch einen Insektenstich mit einer Kältekompresse o.Ä. gekühlt. Und das ist sie auch schon – die einfachste Art einer Kryotherapie.
Darunter wird der gezielte Einsatz von Kälte als therapeutische Maßnahme verstanden. Ziel dabei ist eine Entzündungshemmung und Schmerzstillung. Bei der Kryotherapie wird zwischen lokaler Kälteanwendung und Ganzkörper-Kältetherapie (GKKT) unterschieden.
Lokale Kälte:
Therapeutische Kälte kommt am häufigsten als Lokalanwendung bei Verletzungen oder Entzündungen des Bewegungsapparates zum Einsatz. Das heißt: (Sport-)Verletzungen, wie Verstauchungen oder Prellungen, aber auch chronisch entzündete Gelenke werden mit Kühlkompressen, Eisbeuteln oder Kältespray behandelt.
Auch die Dermatologie arbeitet mit Kälte, wie z. B. bei der Vereisung von Warzen (z. B. WARTNER®), Blutschwämmchen oder überschießendem Narbengewebe.
Bei der lokalen Kältetherapie wird in Kurz- oder Langzeittherapie unterschieden. Die kurzzeitige Kälteanwendung liegt dabei zwischen 30 Sekunden und mehreren Minuten, wohingegen die Kälte bei einer Langzeittherapie 20 Minuten bis hin zu zwei Stunden an dem entsprechenden Körperteil verbleibt.
Weitere Einsatzmöglichkeiten, wo lokale Kälte noch medizinisch benutzt wird:
- Pigmentstörungen
- Fersensporn
- in der Diagnostik als Kälteprovokationstest (z. B. bei Vitalitätsprüfung beim Zahnarzt)
- in der Kryochirurgie z. B. zur Tumorbehandlung
- Kryoneurolyse in der Neurochirurgie
- Kryoablation in der Kardiologie
- Kryoextraktion der Augenlinse
- Kryostripping in der Angiologie
Ganzkörper-Kältetherapie:
Bei der Ganzkörper-Kältetherapie (GKKT) wird der gesamte Körper (je nach Methode auch der Kopf) extremer Kälte ausgesetzt. Dieses Verfahren kommt vor allem bei chronisch entzündlichen und/oder autoimmunologischen Erkrankungen des Körpers wie Multipler Sklerose oder rheumatoider Arthritis zum Einsatz.
Außerdem wird GKKT auch eingesetzt, um Schmerzen und Entzündungen zu lindern. Extreme Kälte kann auch nach Operationen, Muskelverletzungen oder spastischen Muskelerkrankungen als Ganzkörpertherapie genutzt werden. Im Leistungssport erfreut sich die Behandlung immer größerer Beliebtheit, da die Regeneration der Muskeln schneller und die Leistung danach gesteigert sein soll. Selbst gegen Depressionen und Angststörungen soll die extreme Kälte helfen.
Kältebehandlung auch mittels Kältekammer
Für die GKKT kann natürlich der Sprung ins Eiswasser – der jetzt immer beliebter wird – genutzt werden. Deutlich kälter und kontrolliert laufen Kältebehandlungen in Kältekammern ab. Dabei verbringt der Patient eine halbe bis maximal drei Minuten bei −110 °C in extrem trockener Luft, nur in Unterwäsche oder Badebekleidung. Die Akren (Hände, Füße, Nase und Ohren) werden aber so gut es geht durch (Hand-)Schuhe, Stirnband und ggf. Mund-Nasen-Schutz vor der Kälte geschützt.
Zur Akklimatisierung und Verdampfung der Restfeuchtigkeit auf der Haut erfolgen zunächst Kurzaufenthalte in zwei Vorkammern bei −10 °C und −60 °C. Danach geht es für maximal drei Minuten in die eigentliche Kältekammer. Dort wird langsames Gehen im Kreis unter Vermeidung hektischer Bewegungen empfohlen.
Es gibt auch Kältekapseln, oft „Kryosauna“ genannt, die auf Stickstoffbasis funktionieren. Dabei steht man in einer Art Kabine bei −60 °C bis −195 °C und der Kopf bleibt außerhalb der Kältekammer. Die Körperkerntemperatur sinkt während der kurzen Zeit in der Kältekammer nicht merklich ab.
Unter anderem wegen der fehlenden Verdampfungskälte (Luftfeuchtigkeit annähernd 0 %, trockene Haut) wird die Temperatur nicht als so kalt wahrgenommen. Im subjektiven Vergleich wird ein Bad im Tauchbecken nach der Sauna als kälter beschrieben.
Kältekammern findet man in speziellen Studios, Praxen oder Rehazentren. Eine Kryotherapie-Sitzung kostet zwischen 20 und 50 Euro und wird derzeit nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Was passiert im Körper bei Kälte?
Wird der menschliche Körper von eisiger Kälte umhüllt, versucht er mit aller Kraft das Gehirn und lebenswichtige Organe zu schützen, indem sich das Blut in den Körperkern zurückzieht. Arme und Beine werden weniger durchblutet und die Gefäße in Haut und Extremitäten ziehen sich zusammen (Vasokonstriktion).
Je nach Umgebungstemperatur und Aufenthaltsdauer sinkt auch die Körperkerntemperatur (Achtung: < 35 °C = Unterkühlung). Als kompensatorische Maßnahmen wird der Stoffwechsel angekurbelt und die Muskeln beginnen zu zittern, beides dient der körpereigenen Wärmeproduktion.
Glücksgefühle durch Kälte
Der Körper ist bei extremer Kälte definitiv im Alarmzustand – wach und aktiv. Es werden Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Auch Glückshormone wie Endorphine werden scheinbar in die Peripherie freigesetzt, gelangen aber wahrscheinlich nicht über die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn, da das Molekül zu groß ist.
Manche Quellen behaupten jedoch, dass beim Eisbaden und Co. ein regelrechter Glückshormon-Cocktail freigesetzt wird. Der Ursprung der Euphorie, die Anwender nach Kältesitzungen spüren, ist aber nach wie vor nicht ganz geklärt. Viele Menschen geben an, sich nach den Kälteanwendungen frisch, aktiv und in Summe besser zu fühlen. Wahrscheinlich hat die Kryotherapie einen positiven Zusatzeffekt, auch was die mentale Gesundheit und Resilienz betrifft. Allerdings könnten auch psychosoziale Faktoren wie das Eisbaden in Gruppen in einer schönen Umgebung der mentalen Gesundheit zuträglich sein.
Dass Kryotherapie Depressionen und sogar Angststörungen heilen oder zumindest mildern kann, wird weitläufig im Internet verbreitet. Trotz der Tatsache, dass sich die meisten Menschen nach der Anwendung gut oder sogar besser fühlen, gibt es dafür bisher keine signifikanten Beweise.
Kryotherapie: Studienlage insgesamt dünn
Messbare Daten über die (Langzeit-)Auswirkungen der Kälteanwendungen zu erheben, gestaltet sich schwierig, da das Empfinden „nach Kälte“ sehr subjektiv ist. Mache Menschen reagieren gut darauf, andere zeigen keine nennenswerten Reaktionen.
Die Initiative „Medizin transparent“ von Cochrane Österreich hat 2023 alle verfügbaren Studien zur gesundheitlichen Wirkung von Ganzkörper-Kryotherapie in einer Kältekammer zusammengetragen und kommt zu dem Schluss: „Alle haben grobe Mängel, keine davon ist aussagekräftig.“
Weder für körperliche noch für psychische Beschwerden sei die Wirksamkeit belegt. Auch im Sport gebe es keine Belege für positive Effekte. Und trotzdem sagen Experten, wer sich nach einer Kryotherapie besser fühlt, vielleicht weniger Schmerzen hat oder ein mentales Hoch erfährt, dem ist auch ohne Wirksamkeitsbelege geholfen.
Kälte gegen Schmerzen und Entzündungen
Schon Hippokrates beschrieb im antiken Griechenland die Anwendung von Kälte gegen Schmerzen. Dass Kälte die Schmerzwahrnehmung dämpft und auch gegen Entzündungen wirkt, ist lang bekannt. Durch die sich verengenden Blutgefäße sinkt die Durchblutung in entzündeten oder verletzten Körperregionen (Extremitäten) und die Sensibilität der Nervenzellen nimmt ab.
Auch die PECH-Regel (Pause, Eis, Compression, Hochlagern) nach Sportverletzungen macht sich diesen Effekt zunutze. Eine übermäßige Schwellung sowie das Einbluten in umliegendes Gewebe, wird verhindert. Die Kälte steuert den natürlichen Entzündungsprozessen des Körpers entgegen.
Zur Erinnerung: Die fünf Entzündungsanzeichen
- Rötung (Rubor)
- Überwärmung (Calor)
- Schwellung (Tumor)
- Schmerz (Dolor)
- eingeschränkte Funktion (Functio laesa)
Nun gibt es nicht nur akute (Sport-)Verletzungen, sondern auch Schmerzen im Bewegungsapparat durch Abnutzungserscheinungen in Gelenken oder durch chronische Erkrankungen, wie rheumatoide Arthritis (RA) und Multiple Sklerose (MS), bei denen Autoimmunreaktionen chronische Schmerzen verursachen.
Zu Linderung dieser Beschwerden kommt die therapeutische Kälte immer öfter zum Einsatz. Viele Betroffene haben danach weniger Schmerzen, manche aber profitieren wenig bis gar nicht von der Kryotherapie. Auch hier ist es eine individuelle Reaktion, ebenso ist die Datenlage teilweise widersprüchlich.
Was auf molekularer Ebene passiert, ist auch nicht vollends geklärt. Vermutet wird eine Modulation verschiedener Hormone und Botenstoffe wie Cortisol und Interleukin, eine Veränderung der Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) und des Schmerzgedächtnisses. Fest steht, vielen Patienten tut die Kälte gut. Eine Ganzkörper-Kältetherapie ist dabei einer lokalen Anwendung von Kälte an den schmerzenden Gelenken oder Körperteilen jedoch nicht überlegen.
In den geltenden Leitlinien zur Behandlung von Rheumatoider Arthritis"Interdisziplinäre Leitlinie
Management der frühen rheumatoiden Arthritis" heißt es: „Eine Überlegenheit der Ganzkörper-Kältetherapie gegenüber lokalen Kälteanwendungen ist nicht gesichert.“
Was bewirkt Kälte beim Sport?
Eisbaden, Kältekammern und Co. sind auch in der Sportwelt mittlerweile ein großes Thema. Vor dem Sport hilft eine Kälteanwendung die Durchblutung der Muskeln zu fördern. Denn: Nach der Vasokonstriktion und Abkühlung der Muskulatur in der Kälte folgt beim Aufwärmen eine vermehrte Durchblutung, die einer Vorbereitung auf die Sportsession zuträglich ist.
Besonders oft wird die Kryotherapie aber nach dem Sport angewendet. Profisportler bauen die Kälte mehr und mehr in ihr physiotherapeutisches Regenerationsprogramm ein. Sie soll dafür sorgen, dass Muskelkater weniger stark ausfällt und schneller abklingt. Die Kälte reguliert Mikroentzündungen, die aufgrund von starker muskulärer Belastung auftreten und den Muskelkater verursachen. Das Wachstum der Muskeln scheint allerdings von diesen Entzündungen in den Muskelfasern zu profitieren, so verzeichnen Sportler bei regelmäßiger Kälteanwendung nach dem Sport ein verlangsamtes Muskelwachstum.
Durch regelmäßiges Frieren soll auch die Leistungsfähigkeit hochgehalten bzw. gesteigert werden, da die Regenerationsphasen verkürzt und die Hormon- und Botenstoffausschüttung moduliert zu sein scheint.
Profisportler in extremen Belastungssituationen, wie Trainingslagern oder Wettkämpfen, profitieren deshalb offenbar von den Kälteanwendungen und auch im normalen Trainingsalltag wird Berufssportlern eine Anwendung einmal pro Woche empfohlen. Freizeitsportler mit Zeit für Regeneration könnten laut Studienlage auch auf die Kälteanwendungen verzichten, da bei ihnen keine Therapienotwendigkeit besteht.
Kälte stärkt Immunsystem und wirkt gegen chronische Erkrankungen
Wer einer Eisschwimmgruppe beitritt, ein Monatsabo für eine Kältekammer hat oder bei Minusgraden jeden Morgen in den See oder die Eistonne springt, hat Kälte zu einem Lebensteil gemacht. Immer mehr Kälte-Gurus postulieren die positiven Effekte des regelmäßigen Frierens.
Das Immunsystem soll dauerhaft gestärkt werden und Erkältungen ausbleiben. Chronische Erkrankungen sollen unter Kontrolle gebracht werden. Für eine anhaltende Immunmodulation gibt es jedoch auch hier keine ausreichenden Daten bzw. verlässliche Studien ohne zu große Störfaktoren.
UntersuchungenNature Aging: "Cold temperature extends longevity and prevents disease-related protein aggregation through PA28γ-induced proteasomes" an Fadenwürmern und Mäusen lassen vermuten, dass Kälte auch auf zellulärer Ebene positive Effekte erzielen kann. Seit längerem wird vermutet, dass zelluläre Reinigungsprozesse angekurbelt werden und schädliche Proteinverklumpungen – wie sie auch bei Alzheimer-Demenz vorliegen – schneller abgebaut werden. Auch Alterserscheinungen sollen dadurch verzögert auftreten.
Kälte auch zur Gewichtsreduktion?
Was im Tiermodell erfolgreich zu beobachten war, wird sich beim Menschen erst behaupten müssen. Fest steht: Eine Gesundheitsförderung ist bei richtiger Häufigkeit und Anwendung von Kälte zwar nicht belegt, aber auch nicht auszuschließen. Ein gutes Gefäßtraining ist die Kälte allemal. Zudem bewegen sich Kältefreunde raus aus ihrer thermischen Komfortzone, das erfrischt Geist und Körper und stärkt die Überwindungskraft.
Dem Kältebaden wird außerdem zugeschrieben, beim Abnehmen zu helfen. Weißes Körperfett wird – so die Theorie – vermehrt zu braunem Fettgewebe umgewandelt, welches durch eine erhöhte Mitochondrien-Zahl mehr Energie verbraucht. Sollten regelmäßiges Eisbaden oder Kryosaunieren dieses braune Fett tatsächlich aktivieren, könnte das beim Gewichtsverlust eine gute Unterstützung sein.
Wem Kälte schadet
Bei all den mehr oder weniger belegten Vorteilen von Kryoanwendungen gibt es Patientengruppen, für die die extreme Kälte gefährlich werden kann. Menschen mit Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems wie Herzinfarkt, Bluthochdruck oder KHK und Gefäßerkrankungen wie Arteriosklerose, pAVK, aber auch Diabetes mellitus sollten von der Kälte Abstand nehmen. Der Grund: Die Vasokonstriktion kann für sie gefährliche Folgen haben.
Extreme Kälte kann außerdem Asthmaanfälle auslösen, neurologische Probleme fördern und bei zu häufiger oder zu langer Anwendung zu Gewebeschäden, Blutbildveränderungen und im schlimmsten Fall zum Schock oder Herzstillstand führen.
Wer also den wortwörtlichen Sprung ins kalte Wasser wagen möchte, sollte sich bei Unsicherheiten besser vorher ärztlich dazu beraten lassen. Quellen:
- https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/gesundheit-kaelte-100.html
- https://www.spektrum.de/news/kryotherapie-eisbaden-fuer-die-gesundheit/2207132
- https://m.thieme.de/viamedici/klinik-faecher-allgemeinmedizin-1528/a/das-kaeltekammer-experiment-31748.htm