Was ist eigentlich Orthorexie?
Wenn Sarah B. (29 Jahre) den Arbeitstag im Büro beendet, hat sie noch ein aufwändiges Programm vor sich. Es geht um ihren Speiseplan. Zunächst steuert sie den Hofladen des Biobauern an. Schließlich sollen nur einwandfreie Lebensmittel frisch vom Feld auf den Tisch kommen. Fleisch und Wurst sind für Sarah tabu. Auch Genussmittel wie Kaffee, Schokolade oder Alkohol versagt sich die 29-Jährige längst.
In der Mittagspause gibt es mitgebrachte Rohkost und Nüsse. Mit den Kollegen zum Schnellimbiss gehen? Nicht mehr denkbar! Auch auf die traditionellen Wochenendtreffen mit Freunden in der Pizzeria verzichtet Sarah inzwischen lieber. Was sollte sie dort denn Vernünftiges zu sich nehmen?
Orthorexie: besessen vom korrekten Essen
Sarahs Essverhalten wird in der Fachwelt als Orthorexie (Orthorexia nervosa) bezeichnet. Der Begriff lässt sich übersetzen mit: „zwanghaftes Richtigessen“ (griechisch „orthos“ = richtig, „orexis“ = Appetit).
Aus der ursprünglich positiven Motivation heraus, sich gesund und/oder umweltfreundlich ernähren zu wollen, entsteht eine regelrechte Besessenheit. Menschen mit orthorektischem Verhalten sind fixiert auf korrekte Auswahl und Zubereitungsart von Lebensmitteln. Sie erlegen sich selbst strenge Ernährungsregeln und Essgewohnheiten auf.
Der Genuss spielt bei Orthorexie keine Rolle. Auch geht es den Betroffenen nicht um Gewichtskontrolle. Für sie zählt die gesundheitliche oder ökologische Qualität ihrer Nahrung.
Doch oft schadet das zwanghafte Richtig-essen-Wollen eher dem Wohlbefinden. Denn viele Orthorektiker schränken die Auswahl „erlaubter“ Nahrungsmittel stark ein, was zu Mangelerscheinungen führen kann. Außerdem beschäftigen sie sich täglich lange und intensiv mit ihrer Ernährung. Freudvolle Tätigkeiten oder soziale Kontakte bleiben auf der Strecke. Wie Sarah B. geraten Betroffene dann leicht in eine Außenseiterposition.
Gut zu wissen: Orthorexie-Selbsttest nach Bratman
Der Begriff Orthorexie wurde im Jahr 1997 vom amerikanischen Arzt Steven Bratman geprägt. Er war selbst jahrelang von dieser Störung betroffen und entwickelte einen Fragenkatalog zur Aufdeckung einer möglichen Orthorexie. Die nachfolgenden Fragen geben lediglich einen Hinweis darauf, ob möglicherweise eine Orthorexie vorliegt, sie ersetzen jedoch nicht die Diagnose durch einen Arzt.
- Denken Sie mehr als drei Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
- Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
- Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als der Genuss?
- Haben Sie das Gefühl, je gesünder Sie sich ernähren, desto schlechter werde Ihre Lebensqualität?
- Werden Sie immer strenger mit sich selbst?
- Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
- Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher genossen haben, um sich nun „richtig“ zu ernähren?
- Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrem Ernährungsplan abweichen?
- Haben Sie durch Ihre Essgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
- Spüren Sie ein befriedigendes Gefühl von totaler Kontrolle, wenn Sie beim Essen alles richtig machen?
(Treffen zwei bis drei Punkte zu, liegen orthorektische Züge vor, bei vier oder mehr Punkten ist man betroffen, bei zehn Punkten benötigt man Hilfe.)
Typische Persönlichkeitsmerkmale von Orthorektikern
Die Orthorexie kann also durchaus einen Leidensdruck für die Betroffenen bedeuten. Dennoch ist sie bisher nicht als eigenständige Erkrankung klassifiziert. Ihre Einordnung ist schwierig, da es sich nicht unbedingt um eine klassische Essstörung handelt. Allerdings zieht die Orthorexie mitunter eine Magersucht oder Ess-Brechsucht nach sich.
Das extreme Essverhalten könnte vielleicht den Zwangserkrankungen zuzurechnen sein oder aber eine Persönlichkeitsstörung darstellen. Jedenfalls haben viele Orthorektiker perfektionistische Züge. Sie sind oft stolz darauf, dank ihrer Willensstärke die strikten Ernährungsregeln einzuhalten.
Es wird aber auch gemutmaßt, die übermäßige Fixierung aufs richtige Essen fülle lediglich eine spirituelle Lücke und sei eine „Ersatzreligion“. Allerdings sollte man auch die äußeren Umstände beachten.
So steht heute eine schier unüberschaubare Vielfalt an Lebensmitteln zur Auswahl. Gleichzeitig gibt es eine Flut an Ernährungsinformationen. Manche Menschen fühlen sich dadurch verunsichert. Sie sehnen sich nach Überschaubarkeit und klaren Regeln – und schießen dann vielleicht übers Ziel hinaus.
Wann besteht Behandlungsbedarf?
Der Übergang zwischen noch gesundem Essverhalten und einer Orthorexie ist oft fließend. Doch wenn die Lebensqualität beeinträchtigt ist, gilt es aufzumerken. Auch in Sarah regen sich allmählich Zweifel an ihrem Ernährungsverhalten.
Immer häufiger musste sie in letzter Zeit an „unerlaubte“ Köstlichkeiten wie Pizza oder Schokopudding denken. Zur „Strafe“ hat sie ihre Ernährungsregeln verschärft – doch die Gelüste nehmen zu. Eine Psychotherapie könnte Sarah jetzt helfen, wieder zu einem normalen, tatsächlich gesunden Essverhalten zurückzufinden. Quellen: Helios Klinikum Duisburg; Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen SGES; Neurologen und Psychiater im Netz; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA); PTT – Persönlichkeitsstörungen Theorie und Therapie, Juni 2007; Nr. 2
Orthorexie in Kürze
- Übertriebene Beschäftigung mit gesunder Ernährung und zwanghaftes Einhalten selbst auferlegter Ernährungsregeln.
- Kann Lebensqualität stark mindern, körperliche Beeinträchtigungen verursachen, zu sozialer Isolation führen und andere Essstörungen nach sich ziehen.
- Auf Genuss wird kein Wert gelegt; Gewichtskontrolle steht nicht im Vordergrund.
- Kontrolle über eigenes Essverhalten schafft Befriedigung und Selbstwertstärkung.
- Keine eigenständige Krankheit, zeigt Charakteristika von Ess-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen; kann auch ideologisch motiviert sein.
- Bei starker Ausprägung evtl. psychotherapeutische Behandlung.