Neue Studie zu plötzlichem unerwartetem Kindstod (SIDS) : Plötzlicher Kindstod: der Ursache auf der Spur
Woran liegt es, dass manche – gesunde – Säuglinge plötzlich während des Schlafes sterben? Eine eindeutige Ursache für den plötzlichen unerwarteten Kindstod (SIDS, sudden infant death syndrome) ist bislang nicht ausgemacht. Lediglich etwa zehn Prozent der SIDS-Fälle lassen sich auf Herzrhythmusstörungen zurückführen.
Aufklärung reduziert Wahrscheinlichkeit
In den letzten Jahren gelang es dank intensiver Forschung, Risikofaktoren herauszuarbeiten, die die Gefahr für SIDS erhöhen – wie Bauchlage beim Schlafen, Rauch oder eine zu warme Schlafumgebung. Mithilfe von Gesundheitskampagnen ließen sich die Fälle von SIDS deutlich reduzieren: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gingen die Fälle in den letzten Jahren um 80 Prozent zurück.
Dennoch sterben nach wie vor unerwartet gesunde Babys. So ist SIDS immer noch die Hauptursache neonataler Todesfälle. Doch woran liegt das?
Gut zu wissen: Plötzlichem Kindstod vorbeugen
Das Risiko für den Plötzlichen Kindstod lässt sich deutlich senken, wenn wichtige Empfehlungen befolgt werden. Die 3R-Regel sowie die Tipps der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finden Sie hier.
Viele Faktoren als Ursache
Derzeit geht man davon aus, dass es nicht nur eine einzige Ursache für SIDS gibt, sondern dass der plötzliche Tod der Babys multifaktoriellen Ursprungs ist. Ein aktuell akzeptiertes Modell ist das „Dreifache Risikomodell“. Demzufolge verstirbt ein Säugling nur dann an SIDS, wenn drei Risikofaktoren zusammentreffen:
- ein gefährdetes Kind,
- eine kritische Entwicklungsphase für die homöostatische Kontrolle und
- ein exogener Stressfaktor.
Doch was „gefährdet“ ein Kind? Australischen Wissenschaftlern könnte es nun gelungen sein, einen wichtigen Biomarker dafür gefunden zu haben. Sie veröffentlichten ihre Forschungsergebnisse im Fachjournal „The Lancet“(„Butyrylcholinesterase is a potential biomarker for Sudden Infant Death Syndrome“) .
Welche Rolle spielt die Butyrylcholinesterase bei SIDS?
Es geht um die Butyrylcholinesterase (BChE), ein Enzym, das – neben der Acetylcholinesterase (AChE) – wichtig für den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin (ACh) und damit für dessen Aktivität ist. Acetylcholin ist der wichtigste Neurotransmitter im Parasympathikus.
Die Idee der Forscher war nun, dass unterschiedliche Aktivitäten von BChE mit dem Risiko für den plötzlichen unerwarteten Kindstod in Verbindung stehen könnten. In der australischen Studie entschieden sich die Wissenschaftler dazu, die Aktivität von BChE (anstelle von AChE) zu bestimmen, da sich diese in Blutproben einfacher nachweisen ließ.
Zur Erinnerung: Was ist der Parasympathikus?
Der Parasympathikus ist ein Teil des vegetativen Nervensystems und ist, im Gegensatz zum Sympathikus, besonders in Ruhe aktiv.
Das vegetative Nervensystem kontrolliert lebenswichtige Funktionen, wie z. B. Atmung, Verdauung und Stoffwechsel, und funktioniert autonom, d. h. ohne bewusste Steuerung durch das Gehirn.
Forscher werteten 26 SIDS-Fälle aus
Für ihre Fall-Kontroll-Studie bestimmten sie BChE im Blut von Neugeborenen (zwei bis vier Tage nach Geburt) und verglichen die Aktivität des Enzyms bei Säuglingen, die später an SIDS verstarben, mit der BChE-Aktivität von je zehn Säuglingen, die am selben Tag geboren wurden (gleiches Geschlecht) und überlebten. Zudem schauten sich die Forscher auch Blutproben von Säuglingen an, die zwar verstarben, bei denen jedoch eine Todesursache ausgemacht werden konnte (Non-SIDS-Fälle).
Die Proben waren zwischen 2016 und 2020 entnommen worden. Kinder, die im Alter von weniger als 24 Monaten aus unbekannten Gründen zwischen Juli 2018 und Juli 2020 verstarben, fielen in die Kategorie SUID – sudden unexpected infant death. Als SUID zählte, wenn die Babys aus unbekannten Gründen zwischen Woche eins und 103 verstarben, als SIDS, wenn die Babys zwischen Woche vier und 35 starben.
Insgesamt werteten die Wissenschaftler am Ende
- 26 SIDS-Fälle (mittleres Sterbealter 15,7 [± 8,1] Wochen, 54 Prozent männlich), verglichen mit 254 Kontrollen,
- und 30 Non-SIDS-Fälle (mittleres Sterbealter 23,5 [± 30] Wochen, 57 Prozent männlich), verglichen mit 291 Kontrollen aus.
Alle Non-SIDS-Fälle hatten eine identifizierte Todesursache.
Niedrigere BChE-Aktivität bei Kindern mit SIDS
In der Tat konnten die Wissenschaftler Unterschiede in der BChE-Aktivität ausmachen: Im Median lag die BChEsa (spezifische Aktivität für BChE) bei SIDS-Kindern nach Geburt bei 5,6 U/mg, bei am selben Tag Geborenen mit gleichem Geschlecht dagegen bei 7,7 U/mg.
Bei Non-SIDS-Kindern war die Aktivität des Enzyms hingegen deutlich höher: 8,5 U/mg bei Kindern, die aufgrund anderer Ursachen gestorben waren (Non-SIDS) und 8,5 U/mg in der Kontrollgruppe, die also überlebt hatten (und am selben Tag geboren waren sowie das gleiche Geschlecht hatten).
„In den Gruppen mit einem SIDS-Todesfall gab es starke Hinweise darauf, dass ein niedrigerer BChEsa-Wert mit dem Tod assoziiert war, während es in den Gruppen mit einem Non-SIDS-Todesfall keinen Hinweis auf einen linearen Zusammenhang zwischen BChEsa und Tod gab“, erklären die australischen Forscher.
Und weiter: „Es könnte sein, dass eine Abnahme von BChEsa eine Abnahme von verfügbarem ACh und damit eine beeinträchtigte Erregungsreaktion auf eine gegebene Umweltherausforderung bedeutet, sei es eine Infektion, ein Atemstillstand oder eine Rückatmung von CO2 als Folge des Schlafens in Bauchlage.“
Ist eine verringerte BChE-Aktivität ein Risikofaktor für SIDS?
Bezogen auf das „Dreifache Risikomodell“ interpretieren die Forscher die verringerte BChE-Aktivität als Faktor für ein „gefährdetes Kind“ und bezeichnen diesen als „autonome cholinerge Dysfunktion“. Diese Erkenntnis eröffne die Möglichkeit, Säuglinge mit einem SIDS-Risiko bereits bei Geburt zu identifizieren, und biete einen spezifischen Ansatzpunkt für die künftige Erforschung von Interventionen vor deren Tod, erklären die Wissenschaftler.
Interessant ist auch die Überlegung der Wissenschaftler, dass die „Anfälligkeit“ für SIDS „wahrscheinlich in der Schwangerschaftszeit entsteht“ – da sie die verringerte BChE-Aktivität bereits bei Geburt feststellen konnten. Diese These wird dadurch gestützt, dass Rauchen während der Schwangerschaft mit einem deutlichen Anstieg der SIDS-Ereignisse bei Säuglingen in Zusammenhang gebracht wird – also auch vorgeburtlich das Risiko für SIDS erhöht(veröffentlicht 2019 in „Pediatrics“: „Maternal Smoking Before and During Pregnancy and the Risk of Sudden Unexpected Infant Death“) .
Endgültige Ursache für SIDS noch unklar
Andere Arbeiten hatten bereits gezeigt, dass eine niedrigere Aktivität des Enzyms – und eine damit potenziell geringere Verfügbarkeit des Neurotransmitters Acetylcholin und ein gestörtes cholinerges Gleichgewicht – mit schweren systemischen Entzündungen(„Journal of Surgical Research“: „Reduced serum cholinesterase activity indicates splenic modulation of the sterile inflammation“) und erhöhter Sterblichkeit bei Sepsis(veröffentlicht 2018 in „Mediators of Inflammation“: „A Sustained Reduction in Serum Cholinesterase Enzyme Activity Predicts Patient Outcome following Sepsis“) sowie mit akutem Koronarsyndrom(veröffentlicht 2016 im „Clinical Laboratory“: „Low Serum-Butyrylcholinesterase Activity as a Prognostic Marker of Mortality Associates with Poor Cardiac Function in Acute Myocardial Infarction“) in Zusammenhang steht.
Auch wird den australischen Wissenschaftlern zufolge angenommen, dass bei SIDS Entzündungen eine Rolle spielen. Bereits vor über 130 Jahren seien bei SIDS-Kindern entzündliche Veränderungen in den Atemwegen festgestellt worden(veröffentlicht 2017 im Fachjournal „Academic Forensic Pathology“: „A Fresh Look at the History of SIDS“) .
Bereits in früheren Studien waren Forscher bei Kindern mit SIDS dem cholinergen System auf den Grund gegangen – jedoch mit unterschiedlichen Ergebnissen. Bei 28 Säuglingen konnte nach deren Tod ein verringerter (aber statistisch nicht signifikanter) AChE-Wert nachgewiesen werden(veröffentlicht 2009 in „Acta Paediatricata“: „Cholinergic and oxidative stress mechanisms in sudden infant death syndrome“) . Hingegen förderte eine andere Studie einen signifikant höheren AChE-Spiegel bei SIDS-Kindern zutage(veröffentlicht 2010 in „PLOS ONE“: „Cardiac Muscarinic Receptor Overexpression in Sudden Infant Death Syndrome“) .
Kann man mit Butyrylcholinesterase den Kindstod vorhersagen?
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein vermindertes BChEsa ein biochemischer Marker war, der Säuglinge, die an SIDS verstarben, von mit dem Geburtsdatum und dem Geschlecht übereinstimmenden (überlebenden) Kontrollen und von Säuglingen mit bekannten Todesursachen unterschied“, ziehen die Wissenschaftler ihr aktuelles Fazit.
Es sei die erste Studie, die einen messbaren biochemischen Marker bei Säuglingen, die im Neugeborenenalter an SIDS verstarben, identifiziere. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Babys noch am Leben waren. Dieser Marker – BChE – könne funktionelle Veränderungen der autonomen Reaktion des Säuglings hervorrufen, welche diesen anfällig für den plötzlichen Kindstod machten.
Sie fordern: „Weitere Untersuchungen in diesem Bereich müssen dringend durchgeführt werden, um festzustellen, ob die spezifische BChE-Aktivität möglicherweise als Biomarker zur Erkennung und Verhinderung künftiger SIDS-Todesfälle verwendet werden kann.“