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ARD-Magazin „Plusminus“: Wie gefährlich ist Titan­dioxid in Arznei- und Lebensmitteln?

Sollte Titandioxid neben Lebensmitteln auch aus Arzneimitteln verschwinden? | Screenshot: Plusminus

„Würden Sie etwas zu sich nehmen wollen, in dem ein Stoff steckt, der möglicherweise Krebs auslöst oder Ihren Darm schädigt?“, so wird ein Beitrag des ARD-Magazins „Plusminus“ vom 4. August anmoderiert. Die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) halte die Verwendung von Titandioxid in Lebensmitteln für nicht mehr sicher, heißt es weiter – und das, obwohl der Hilfsstoff seit Jahrzehnten eingesetzt wird. 

Aus einer im anschließenden Beitrag gezeigten Umfrage unter Passanten lässt sich ableiten, dass in der Durchschnittsbevölkerung dennoch kaum jemand etwas mit dem Begriff Titandioxid anfangen kann – anders dürfte das bei PTA sein, die schon in der Ausbildung lernen, wie weit verbreitet der Stoff auch in Arzneimitteln zum Einsatz kommt.

Gut zu wissen: Wo steckt Titandioxid drin?

  • In Lebensmitteln als Farbpigment E 171 z. B. in Kaugummis, Dragees und Bonbons mit hellen glänzenden oder glatten Überzügen. Auch in Schokolade, Keksen, Käse und hellen Saucen und Nahrungsergänzungsmitteln, wie Magnesium- oder Calciumtabletten.
  • In Kosmetika als CI 77891 z. B. in Zahncremes und vielen Kosmetika, auch in Sonnenschutzmitteln als mineralischer Lichtschutzfilter.
  • Als Weißpigment PW6 in Ölfarben, Wandfarben, Lacken, 
    außerdem in Kunststoffen, Textilien, Photokatalysatoren. Quelle: DAZ 7/2020 

Schon im Mai dieses Jahres war auch die DAZ der Frage nachgegangen, wie gefährlich orales Titandioxid ist. Anlass war wie erwähnt, dass die EFSA mögliche gesundheitliche Risiken von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff neu bewertet und das Ergebnis am 6. Mai 2021 veröffentlicht hatte. Bei der Sichtung von fast 12.000 Publikationen habe der Verdacht auf Genotoxizität bei oraler Aufnahme nicht entkräftet werden können, hieß es. Experten der EFSA kamen also zu dem Schluss, dass die Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff nicht mehr länger als sicher angesehen werden kann. Eine akzeptable tägliche Aufnahmemenge (ADI) gibt es derzeit nicht. 

Das berichtete damals auch das BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung). Die Schilderungen des BfR zu Titandioxid klangen dabei nicht unbedingt nach einer gefährlichen Substanz. Allerdings sollte ja der Verdacht der Genotoxizität entkräftet werden und das war und ist bislang offenbar nicht möglich.

Pharmaindustrie kennt das Problem schon länger

Tatsächlich hatte die DAZ bereits im September 2019 über die Diskussionen rund um Titandioxid berichtet. Damals ging es jedoch noch vor allem um dessen inhalative Aufnahme – und eher um den Bereich der Chemie-Industrie als den der Lebensmittel- und Pharmaindustrie. Doch schon damals zeigte sich, dass auch die Pharmaindustrie sich mit dem Thema auseinandersetzt. So bot das Nachrichtenportal PharmTech.com beispielsweise schon im Juli 2019 ein Seminar mit dem Titel „Science or Hype? Navigating the Questions about Titanium Dioxide Safety“ an. 

Für die breite Masse war die Diskussion damals allerdings kaum wahrzunehmen. Das hat sich nun spätestens mit dem „Plusminus“-Bericht geändert, die Diskussion ist in den Publikumsmedien angekommen.

Titandioxid als Nanopartikel

So erklärte „Plusminus“ im Beitrag weiter, dass am Universitätsspital in Zürich schon lange an Titandioxid geforscht werde. Im Interview spricht Professor Gerhard Rogler, der Direktor der Klinik für Gastroenterologie in Zürich, sodann vor allem von Titandioxid in Form von Nanopartikeln. Dadurch könnten im Darm chronische Entzündungen und in der Folge durchaus auch Krebsvorstufen ausgelöst werden. Rogler meint, so „Plusminus“, dass der Farbstoff schon längst hätte verboten werden müssen – nicht nur in Lebensmitteln. 

Wie die DAZ berichtete, bestehen bei der Toxizität von Titandioxid laut EFSA insbesondere Unsicherheiten beim molekularen Mechanismus. Welchen Einfluss Größe und Beschaffenheit der (Nano-)Partikel haben, sei unklar. Die EFSA beschäftigt sich also auch mit der Rolle von Nanopartikeln. Die niederländische Behörde für Lebensmittel- und Konsumgütersicherheit soll 2019 zudem auf die Bedeutung der Untersuchung immuntoxikologischer Wirkungen zusätzlich zu möglichen reproduktionstoxikologischen Wirkungen hingewiesen haben.

Titandioxid in „Dolormin Extra“ und „Buscopan“ überflüssig?

Um dem Anteil an Titandioxid-Nanopartikeln auf die Spur zu kommen, hat „Plusminus“ mehrere verschiedene Produkte an ein Labor geschickt. Im Filmbeitrag ist ein Päckchen zu sehen, in das neben diversen Zahnpasta-Tuben auch Nahrungsergänzungsmittel sowie Arzneimittel wie beispielsweise „Dolormin Extra“ oder „Buscopan“ gepackt werden. Auch dort habe man schließlich Nanopartikel gefunden, heißt es. Die Hersteller verwiesen auf Nachfrage von „Plusminus“ jedoch darauf, dass Titandioxid dort die Wirksamkeit sichere, Titandioxid schütze vor Licht. „Mehr als 30.000 Medikamente, die es in Europa zu kaufen gibt, sind mit Titandioxid überzogen“, so „Plusminus“. Als Arzneimittel sind sie von den Warnungen der EFSA zunächst nicht betroffen.  

„Plusminus“ hat auch den unter Apothekenpersonal bekannten Pharmakologen Gerd Glaeske um Rat gefragt: Dieser meint, dass es in Arzneimitteln für den Lichtschutz nicht ausgerechnet Titandioxid brauche. Nur ein „vorgeschobenes Argument“ der Hersteller also? Blister-Packungen und Umkartons bieten laut Glaeske bereits so viel Lichtschutz, dass Titandioxid gar keine Rolle mehr spielen könne. Für ihn gibt es keinen wirklich nachvollziehbaren Grund zur Verwendung von Titandioxid in Arzneimitteln. 

Die Arzneimittelhersteller haben das Thema Titandioxid jedenfalls nicht abgehakt. So versucht zum Beispiel die „Association of the European Self-Care Industry“ (AESGP) mittels einer Umfrage bei den Unternehmen herauszufinden, welche Konsequenzen durch ein Verbot von Titandioxid zu befürchten wären. Offenbar will man auch erfahren, in wie vielen Arzneimitteln tatsächlich Titandioxid enthalten ist – egal ob Tabletten, Kapseln, Pasten oder flüssige Arzneimittel. Und es wird auch gefragt, welche Funktion Titandioxid im jeweiligen Fall erfüllt und ob bereits alternative Stoffe in Aussicht stehen. Welche Zeit würden die Hersteller benötigen, um von Titandioxid auf Alternativen umzustellen, und welche Kosten würden auf sie zukommen? Würde eine Umstellung die Lieferkette beeinflussen? 

Lobby wehrt sich gegen Verbot

Tatsächlich ist in dem „Plusminus“-Beitrag schließlich von einer „Titandioxid-Lobby“ die Rede. Im Interview mit der „Lobby-Expertin“ Vicky Cann heißt es, dass sie damit rechne, dass in der EU ein Verbot von Titandioxid in Lebensmitteln nicht so schnell kommen werde wie etwa bereits in Frankreich 2020. Die entsprechende Lobby versuche schon seit Jahren ein Verbot zu verhindern. Diese habe „Millionen“ investiert und die größte PR-Agentur in Brüssel engagiert. Als 2019 die EU-Kommission empfahl, Frankreichs Maßnahmen auf die EU auszudehnen, hieß es etwa in einem Brief des Lebensmittelverbands an das Verbraucherministerium: „Wir fordern die Bundesregierung hiermit entschieden auf, keiner der beiden von der Kommission vorgeschlagenen Optionen zu folgen, […]“ „Plusminus“ hat schließlich beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft nachgefragt, warum man Titandioxid nicht schon früher verboten hat. Von dort hieß es: „Ausschlaggebend für das Handeln unseres Ministeriums war und ist die wissenschaftliche Risikobewertung.“ Im Jahr 2019 habe keine wissenschaftliche Handlungsgrundlage für eine Änderung der Zulassung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff bestanden.  

Titandioxid ist häufig verzichtbar

„Dieser Stoff hätte gar nicht zugelassen werden dürfen“, sagt hingegen Martin Rücker, ehemaliger Geschäftsführer von „Foodwatch“ im Interview mit „Plusminus“, denn eigentlich sei das solchen Substanzen vorbehalten, die eine wirkliche Funktion in dem Lebensmittel hätten, den Verbrauchern also einen Nutzen bringen. Bei Titandioxid sei das nicht der Fall, weil es um einen rein optischen Effekt gehe. 

Bei aller bestehender Unsicherheit scheint in der Diskussion schließlich ausschlaggebend zu sein, dass Titandioxid an vielen Stellen – ob Lebensmittel oder Arzneimittel – verzichtbar wäre. Aber auch hinsichtlich der Auswirkungen von Nanopartikeln scheint (nicht nur bei Titandioxid) noch Forschungsbedarf zu bestehen.