Risdiplam kurz vor EU-Zulassung: Erste orale Behandlung bei Spinaler Muskelatrophie
Die EMA empfahl am 25. Februar 2021 die EU-Zulassung einer ersten oralen Behandlungsmöglichkeit für Patienten mit der seltenen Erkrankung Spinale Muskelatrophie (SMA). Risdiplam in Evrysdi® (Roche) erhalten Patienten ab einem Alter von zwei Monaten mit 5q- assoziierter SMA
- und der klinischen Diagnose einer SMA vom Typ 1, Typ 2 oder Typ 3 oder
- mit einer bis vier SMN2-Kopien.
Voraussetzung ist, dass die Europäische Kommission der Zulassungsempfehlung des Humanarzneimittelausschusses (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur folgt, was sie in der Regel tut. Roche rechnet „jeden Tag“ mit diesem Schritt und will die Markteinführung sodann prompt starten. In den Vereinigten Staaten ließ die FDA Risdiplam bereits 2020 zu. Laut Roche haben bislang 2.500 Patienten – in klinischen Studien und in der Praxis – Risdiplam erhalten.
Zur Erinnerung: Was ist Spinale Muskelatrophie?
Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine erbliche und seltene neuromuskuläre Erkrankung, die in unterschiedlichen Schweregraden verläuft. Bei der schwersten Form der SMA – SMA Typ 1 (akut infantile SMA) – sterben die Kinder meist innerhalb ihrer ersten beiden Lebensjahre. Der SMA liegt ein Gendefekt beim Survival Motoneuron (SMN) zugrunde. Dieser Defekt verhindert, dass Survival Motoneuron in ausreichender Menge gebildet wird, ein Eiweiß (Protein), das – wie der Name verrät – für das Überleben (Survival) der Motoneurone im Rückenmark von großer Bedeutung ist. Dort wird ein Bewegungsbefehl in Form eines Nervenimpulses auf ein Motoneuron umgeschaltet, weitere Nervenbahnen leiten diesen Bewegungsbefehl sodann bis zur Muskulatur, wo er letztlich zu Muskelkontraktionen und Bewegung führt. Fehlt das Survival-Motoneuron-Protein, gehen die Motoneurone im Rückenmark zugrunde, der Bewegungsbefehl erreicht die Muskulatur nicht mehr und diese verkümmert.
Wie äußert sich Spinale Muskelatrophie?
Die SMA betrifft alle Muskeln des Körpers, jedoch sind häufig die Schulter-, Hüft- und Rückenmuskulatur beeinträchtigt, sprich die rumpfnahen Muskeln. Durch Beeinträchtigung der Kau- und Schluckmuskulatur fällt den Patienten eine normale Nahrungsaufnahme schwer beziehungsweise wird zunehmend unmöglich, und teils müssen die Patienten über eine Nahrungssonde ernährt werden. Verkümmert die Atemmuskulatur, schränkt dies die Sauerstoffaufnahme der Patienten ein. Teilweise ist die Atmung so schwach, dass die Patienten für eine ausreichende Sauerstoffsättigung auf Beatmung angewiesen sind. Vor allem bei der schwersten Form der SMA (siehe oben) zeichnen Ateminsuffizienz und dadurch bedingte wiederkehrende Atemwegsinfektionen für den frühen Tod der Patienten verantwortlich.
Wie wirkt Risdiplam?
Survival Motoneuron wird von zwei Genen gebildet – Hauptort für die SMN-Bildung ist das SMN1-Gen, kleinere Mengen (kürzeres SMN-Protein) können am SMN2-Gen abgelesen werden. Hier greift Risdiplam an: Der Wirkstoff versetzt das SMN2-Gen in die Lage, „ein SMN-Protein in voller Länge zu produzieren, das normal arbeiten kann“, erklärt die EMA. Dadurch sollen das Überleben der Motoneurone erhöht und die Symptome der Krankheit reduziert werden. Risdiplam bringt einen eminenten Vorteil in die Therapie der Spinalen Muskelatrophie: Evrysdi® wird als oraler Saft verabreicht, hingegen muss Nusinersen (Spinraza®) – nach einer anfänglichen Aufsättigung an Tag 0, 14, 28 und 63 – alle vier Monate ins Rückenmark appliziert werden. Die Prozedur ist aufwendig und schmerzhaft. Hinzu kommt, dass bei Fortschreiten der Erkrankung und Sekundärkomplikationen, wie Skoliose und Beschwerden bei der Atmung, die Verabreichung zusätzlich erschwert sein kann.
Gut zu wissen: Wovon ist der Schweregrad abhängig?
Wie schwer eine SMA verläuft, hängt davon ab, wie viel SMN der Körper bilden kann: Je mehr „Überlebenseiweiß“ der Körper der Patienten produziert, desto weniger schwerwiegend sind die Symptome der Erkrankung und auch der Krankheitsverlauf. Das SMN-Protein kann von zwei Genen gebildet werden, SMN1 und SMN2. Patienten mit Spinaler Muskelatrophie fehlt ein funktionierendes SMN1-Gen, sie haben aber mindestens eine Kopie des SMN2-Gens, das meist ein kurzes SMN-Protein produziert, das nicht so gut funktioniert wie ein Protein in voller Länge. Ziel der SMA-Behandlung ist, die Menge an Survival Motoneuron zu erhöhen – das geschieht bei Nusinersen (Spinraza®) und Risdiplam (Evrysdi) durch Angriff am SMN2-Gen, das Gentherapeutikum Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) ersetzt hingegen das defekte SMN1-Gen.
Vorteil während der COVID-19-Pandemie
Die EMA sieht in der oralen Verabreichung von Risdiplam einen weiteren Vorteil – für die Zeit der Pandemie. Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten verfügbar geworden sei, erforderten sie alle häufige Klinikbesuche oder invasive Eingriffe. Während der COVID-19-Pandemie sei der Zugang zu diesen Behandlungen schwieriger geworden, da nicht akut notwendige Eingriffe verschoben worden seien. „Neue Therapien mit einfacheren Verabreichungswegen werden benötigt, um Patienten mit dieser lebenslangen chronischen Krankheit zu helfen, ihre Behandlung einzuhalten und den vollen Nutzen daraus zu ziehen“, erklärt die EMA vor diesem Hintergrund.
Die EMA stützt ihre positive Empfehlung zu Risdiplam auf zwei klinische Studien (FIREFISH und SUNFISH), diese hatten Risdiplam bei der schwersten SMA-Form, der akut infantilen SMA, sowie bei später einsetzender SMA (SMA Typ 2 und 3) untersucht.
Studien zur Wirksamkeit von Risdiplam
In FIREFISH, einer zweiteiligen Open-Label-Studie, erhielten Säuglinge mit SMA Typ 1 im Alter von ein bis sieben Monaten Risdiplam. Das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme in die Studie betrug 5,3 Monate. Im ersten Studienteil untersuchte Roche die Verträglichkeit von Risdiplam im Rahmen einer Dosiseskalationsuntersuchung an 21 Säuglingen, daneben war das Ziel, eine optimale Dosis von Risdiplam für den zweiten Studienteil festzulegen. Hier erhielten sodann etwa 40 Säuglinge mit SMA Typ 1 für 24 Monate Risdiplam, um die Wirksamkeit der Behandlung zu bewerten. Die Wirksamkeit wurde daran gemessen, wie viele Säuglinge nach zwölf Monaten Risdiplam fünf Sekunden ohne Unterstützung sitzen konnten. Im natürlichen Verlauf der SMA Typ 1 wird dieser wichtige motorische Meilenstein – sitzen ohne Unterstützung – nie erreicht. Unter Risdiplam schafften dies zwölf von 41 Kleinkindern (29 Prozent). Wie Roche mitteilt, seien 93 Prozent der Kleinkinder am Leben gewesen, 5 Prozent der Babys seien in der Lage gewesen, mit Unterstützung zu stehen, 83 Prozent konnten über den Mund gefüttert werden. Die EMA erklärt zusammenfassend: „Die Ergebnisse der Studien zeigen positive Effekte bei sehr jungen Patienten in Bezug auf ihre motorische Entwicklung und das Überleben nach zwölf Monaten, verglichen mit Daten zum natürlichen Verlauf der Erkrankung bei diesen Patienten.“
Die SUNFISH-Studie lief ebenfalls zweiteilig, war jedoch doppelblind und Placebo-kontrolliert. Die Probanden waren keine Säuglinge mehr, sondern Kleinkinder und Erwachsene im Alter von zwei bis 25 Jahren mit Diagnose SMA vom Typ 2 und 3 (medianes Alter bei Studieneinschluss: neun Jahre). Der erste Studienteil diente der Dosisfindung für den zweiten Studienteil. Bewertet wurde die motorische Funktion anhand des Motor Function Measure-32 nach zwölf Monaten Risdiplam beziehungsweise Placebo. Der Score hilft, Veränderungen motorischer Funktionen zu erfassen. Unter Risdiplam verbesserte sich die motorische Funktion signifikant um 1,55 Punkte verglichen mit Placebo (1,36 Punkte) und jeweils im Vergleich zum Ausgangswert.
Nebenwirkungen der Risdiplam-Therapie
Laut der EMA zählten zu den in Studien beobachteten Hauptnebenwirkungen von Risdiplam Kopfschmerzen, Mundgeschwüre und aphthöse Ulzera, Harnwegsinfektionen einschließlich Zystitis, Gelenkschmerzen (Arthralgie), Übelkeit, Fieber und Schwindel.
Beschleunigte Zulassung
Die Bewertung von Evrysdi® lief beschleunigt, es wurde im Februar 2019 als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen. Bereits zwei Monate zuvor war Evrysdi® ins Prime-Programm aufgenommen worden, ein Förderprogramm der EMA, das für vielversprechende neue Medikamente entwickelt wurde, die einen medizinischen Bedarf decken. Ziel der beschleunigten Bewertung war, den Patienten Risdiplam schnellstmöglich verfügbar zu machen. Die EMA fordert von Roche nun, dass die Wirkungen von Risdiplam auch nach Marktzulassung im Rahmen einer Post-Zulassungsstudie weiter beobachtet werden, um zu bewerten, wie sich die Krankheit bei SMA-Patienten mit ein bis vier SMN2-Kopien entwickelt, verglichen mit dem natürlichen Krankheitsverlauf unbehandelter Patienten.