Russischer Oppositionspolitiker wurde mit Nowitschok vergiftet – wie wirkt das Nervengift?
Alexej Nawalny, ein russischer Oppositioneller und Kreml-Kritiker, war am 20. August auf einem Flug in seine Heimat plötzlich ins Koma gefallen und wurde zunächst in Omsk untersucht. Danach wurde er auf Drängen seiner Familie in der Charité behandelt. Die deutschen Ärzte gingen nach einer Auswertung von klinischen Befunden bereits davon aus, dass er vergiftet wurde. Am Mittwoch brachte das Untersuchungsergebnis aus einem Labor der Bundeswehr die Beziehungen westlicher Staaten zu Russland ins Wanken: Der russische Regierungskritiker soll mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden sein. Der Gesundheitszustand von Nawalny sei weiter ernst, teilte die Charité am Mittwoch mit. Die Symptomatik der nachgewiesenen Vergiftung sei zwar zunehmend rückläufig. Nawalny werde aber weiterhin auf einer Intensivstation behandelt und künstlich beatmet. Mit einem längeren Krankheitsverlauf sei zu rechnen. Langzeitfolgen der schweren Vergiftung seien weiterhin nicht auszuschließen.
Therapeutisch eingesetzte Cholinesterasehemmer vs. Nervengift
Cholinesterasehemmer, die therapeutisch als Arzneimittel genutzt werden, blockieren die Cholinesterase reversibel, das heißt: Die Arzneistoffe lassen das Enzym nach einer gewissen Zeit wieder „frei“ und diffundieren von diesem weg. Neben reversiblen AChE-Hemmstoffen gibt es jedoch auch Substanzen, die das Enzym irreversibel blockieren, sodass die Cholinesterase nutzlos wird und erst vom Körper neu gebildet werden muss – so bei Organophosphaten. Sie sind toxikologisch relevant – als Kampfgase wie Sarin oder die Nervengifte der Nowitschok-Gruppe, die unter anderem beim Anschlag auf Skripal und dessen Tochter 2018 in Salisbury gefunden wurden –, und Organophosphate werden auch als Insektizide (Parathion = E605) eingesetzt. Doch wie wirken Organophosphate auf den Menschen?
Tod durch Atemstillstand und Herzversagen
Kommt es zu einer Vergiftung durch Organophosphate, wie Nowitschok, lassen sich Symptome und Wirkungen der Substanzen, bedingt durch deren Cholinesterasehemmung, ebenfalls auf eine Anreicherung von ACh im zentralen und peripheren Nervensystem zurückführen: An muscarinergen Rezeptoren verstärkt Acetylcholin die muscarinergen Wirkungen – die Vergifteten zeigen einen vermehrten Tränen- und Speichelfluss, eine erhöhte Bronchial- und Magen-Darm-Sekretion, eine verstärkte Peristaltik mit Spasmen. Die Pupille verengt sich stark (Miosis), es kommt zu Sehstörungen, einem Absinken von Herzfrequenz und Blutdruck, Bradykardie, und die Schweißsekretion ist erhöht. Reichert sich ACh an nicotinischen Rezeptoren der parasympathischen und sympathischen Ganglien und der motorischen Endplatte an, kommt es zu Muskelsteife, Zittern, Muskelzuckungen, tonisch-klonischen Krämpfen, Sprachstörungen und Lähmungen, Bewusstseinsstörungen bis hin zur Atemlähmung. Es kommt zunächst durch die Acetylcholin-Flutung zu einer Dauererregung mit Kontraktion der Muskulatur, dieser schließt sich eine Lähmung an. Letztlich sterben die Opfer durch die Blockade der Atmung und des Herzmuskels.
Die Antidote Obidoxim und Atropin
Allerdings ist die Bindung von Organophosphaten an die Cholinesterase nicht sofort irreversibel, das bedeutet: Innerhalb eines gewissen Zeitfensters können die Substanzen noch vom Enzym verdrängt werden, beispielsweise durch Obidoxim. Dieser sogenannte Alterungsprozess – bis das Organophosphat tatsächlich die Cholinesterase irreversibel zerstört hat – dauert Toxikologen zufolge in Abhängigkeit vom Wirkstoff mehrere Stunden bis Tage. Besonders schnell verläuft die Enzymhemmung bei Soman, neben Sarin und Tabun der dritte in Deutschland entwickelte chemische Kampfstoff. Deswegen sollte Obidoxim möglichst rasch nach Vergiftung verabreicht werden. Ist der Alterungsprozess abgeschlossen, hilft Obidoxim nicht mehr.
Die Charité berichtete, dass Nawalny Atropin erhält – Atropin blockiert Acetylcholin-Rezeptoren des parasympathischen Systems (Parasympatholytikum), hebt die Wirkung von Acetylcholin auf und steuert so der Acetylcholin-Anflutung entgegen. Atropin kann auch gegeben werden, wenn der Alterungsprozess der Cholinesterase bereits abgeschlossen ist.
Merkel verlangt Antworten aus Moskau
Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, sie erwarte nun eine Erklärung aus Moskau: „Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss“, sagte sie am gestrigen Mittwoch. Für die Kanzlerin steht fest: „Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden.“ Dies verurteile sie auch im Namen der ganzen Bundesregierung auf das Allerschärfste. Gemeinsam mit den Partnern in der Nato und in der EU werde man nun beraten und „im Lichte der russischen Einlassungen über eine angemessene, gemeinsame Reaktion entscheiden“, sagte die Kanzlerin. „Das Verbrechen gegen Alexej Nawalny richtet sich gegen die Grundwerte und Grundrechte, für die wir eintreten.“