Hilft Biotin bei Haarausfall?
„Biotin für die Haare – Wundermittel oder wirkungslos?“, fragt „MedizinTransparent“, ein Online-Service, der allerlei Gesundheitsbehauptungen „kritisch“ und „unabhängig“ überprüft. Das wasserlösliche B-Vitamin wurde früher auch als Vitamin H („H“ von Haut und Haare) oder Vitamin B7 bezeichnet, heute ist „Biotin“ gebräuchlich. Biotin ist wichtig für mehrere Prozesse im Körper: für die Bildung und den Abbau von Fettsäuren, Aminosäuren und für die Gluconeogenese. Auch für die Keratinbildung benötigt der Körper Biotin: Keratin ist der Hauptbestandteil von Haaren und Nägeln. Biotin soll folglich Haare schöner und kräftiger machen und sie schneller wachsen lassen – so weit die Bewerbung von Biotinpräparaten zur Nahrungsergänzung. Doch was ist dran? MedizinTransparent ging dieser Frage nach. Ihr Ergebnis dürfte die Hersteller biotinhaltiger Nahrungsergänzungsmittel nicht unbedingt begeistern.
Unzureichende Studienlage mit methodischen Mängeln
„Unsere Suche nach wissenschaftlichen Belegen für die behaupteten Wirkungen von Biotin blieb erfolglos.“ Trotz „umfangreicher Recherche“ stieß MedizinTransparent bei der Frage nach der Wirkung von Biotin auf das Haarwachstum nur auf eine „unzureichende“ Studienlage. Über zwei Studien berichten sie genauer.
Was ist MedizinTransparent?
Medizin-Transparent.at überprüft Gesundheitsbehauptungen – wie „Hydroxylapatit für bessere Zähne“, „Avocado gegen Arthrose“, „Coffein oder Biotin gegen Haarausfall“ – und überprüft diese wissenschaftlich. Seine Arbeitsweise beschreibt MedizinTransparent als „kritisch“ und „unabhängig“, die sodann gefundenen und veröffentlichten Ergebnisse als „geprüft“. Die Ergebnisse seien „evidenzbasierte Informationen“, die MedizinTransparent kostenfrei zugänglich und in leicht verständlicher Sprache veröffentlicht. Der eigenen Angaben zufolge „unabhängige Online-Service“ ist ein Projekt von Cochrane Österreich an der Donau-Universität Krems.
Dünne Studienlage
Ein polnisches Forscherteam untersuchte bereits 1966 an 46 Frauen die Wirkung von 10 mg Biotin täglich auf die Wachstumsphase der Haare. Nach vier Wochen Einnahme zeigte sich kein Unterschied zwischen der Biotin- und der Placebogruppe. Neben dem Umstand, dass die Teilnehmerzahl mit 46 Frauen sehr klein war, fehlten in der Studie außerdem Angaben zum grundsätzlichen Gesundheitszustand der Frauen, ihrer Ernährung und Haarpflege, so dass das Studienergebnis nicht aussagekräftig erscheint.
2014 veröffentlichten Wissenschaftler aus Australien, Kanada und den USA die Ergebnisse ihrer Untersuchung, bei der 50 Frauen mit geschädigtem Haar über 90 Tage ein biotinhaltiges (0,15 mg pro Tag) Nahrungsergänzungsmittel („Cynatine HNS“) eingenommen hatten. Ob Biotin gegen Haarausfall hilft, testeten sie mithilfe des „Hair-pull“-Tests. Sie nahmen an drei Stellen des Kopfes je ein Büschel Haare, eigenen Angaben zufolge „etwa 60 Stück“ – eine für eine Studie zu ungenaue Angabe –, und zogen daran. Gingen dabei mehr als neun Haare aus, war der Test positiv: Die Haare befänden sich bei „leichtem“ Ausgehen in der Phase des telogenen Effluviums – einem gesteigerten Haarverlust, wenn die Haarzellen frühzeitig in die Ruhephase (telogene Phase) eingetreten sind. Normalerweise – ohne Hair-pull-Test – fallen die Haare nach Übergang in die Ruhephase dann zwei bis drei Monate später aus. Die Wissenschaftler fanden unter dem eingesetzten Nahrungsergänzungsmittel eine „deutliche Verbesserung“ (statistisch signifikant) von Haaren und Nägeln. Doch: Das Präparat enthielt zahlreiche weitere Stoffe, ob der positive Effekt auf das Haarwachstum tatsächlich auf Biotin zurückzuführen ist, klärt die Studie nicht.
Somit kommt MedizinTransparent zu dem Schluss: „Wir können damit weder beantworten, ob Biotin Haare schneller wachsen lässt, noch ob das Vitamin Haarausfall stoppen kann.“
Und bei Biotin-Mangel?
Anders sieht es aus, wenn tatsächlich ein Biotin-Mangel im Körper nachgewiesen wurde. Fehlt Biotin, zeigt sich das meist als Hautstörungen, wie eine seborrhoische Dermatitis (Hautentzündung mit gesteigerter Talgproduktion), Haarausfall (Alopezie), Müdigkeit, Missempfindungen (Parästhesien), erhöhte Anfälligkeit für Infektionen (Candida albicans) und Depressionen (Auswahl an Symptomen, kein Anspruch auf Vollständigkeit). Bei diesen Patienten ergibt es Sinn, Biotin als Arzneimittel zu substituieren.
Bei Biotin-Mangel Einnahme sinnvoll
Zu dieser Einschätzung kam bereits 2018 Professor Martin Smollich: „Hautsymptome oder Haarausfall, die auf einen manifesten Biotin-Mangel zurückzuführen sind, können durch eine entsprechende Supplementation behandelt werden“, erklärte er in einem Beitrag der DAZ 10/2018. Bei einer bereits ausreichenden Biotin-Versorgung werde die Beschaffenheit von Hautbild oder Haarstruktur allerdings nicht durch eine zusätzliche Gabe verbessert. Anderslautende Annahmen oder Werbeversprechungen seien zwar weit verbreitet, aber falsch, so der Leiter der Arbeitsgruppe „Pharmakonutrition“ am Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck und Herausgeber des Fachblogs Ernaehrungsmedizin.blog. Doch wie wahrscheinlich ist ein Biotin-Mangel und wie viel Biotin braucht der Mensch am Tag?
Erlaubte Werbeaussagen zu Biotin
Welche gesundheitsbezogenen Werbeaussagen bei Nahrungsergänzungsmitteln erlaubt sind, entscheidet die EU. Seit Inkrafttreten der EU-Verordnung 1924/2006 über die Nährwert- und Gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel am 1. Juli 2007 dürfen Lebensmittelhersteller laut Artikel 4 dieser Verordnung nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel nur noch verwenden, wenn sie auf einer Positivliste der EU aufgeführt sind. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erachtet bei Biotin in Bezug auf Haut und Haare zwei gesundheitsbezogene Werbeaussagen als bewiesen:
- „Biotin trägt zur Erhaltung normaler Haut bei.“
- „Biotin trägt zur Erhaltung normaler Haare bei.“
Beide ließ die EU zu. Da Biotin bei vielen Stoffwechselprozessen beteiligt ist, erlaubte die Europäische Union nach Bewertung durch die EFSA weitere gesundheitsbezogene Aussagen bei Biotin:
- „Biotin trägt zur Erhaltung normaler Schleimhäute bei.“
- „Biotin trägt zu einer normalen Funktion des Nervensystems bei.“
- „Biotin trägt zur normalen psychischen Funktion bei.“
- „Biotin trägt zu einem normalen Stoffwechsel von Makronährstoffen bei.“
- „Biotin trägt zu einem normalen Energiestoffwechsel bei.“
Ist Biotin-Mangel häufig?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt Jugendlichen und Erwachsenen (ab 15 Jahren) sowie Schwangeren und Stillenden 30 bis 60 µg Biotin pro Tag für eine „angemessene Zufuhr“. Laut der Nährstoffdatenbank der Universität Hohenheim enthalten vor allem Hefe (200 µg pro 100 g), getrocknete Pilze (Pfifferlinge: 146 µg pro 100 g; Steinpilze: 105 µg pro 100 g) und Rinder- oder Kalbsleber (103 µg und 77 µg pro 100 g) sowie Eigelb (50 µg pro 100 g) viel Biotin. Auch Soja (30 µg pro 100 g), Haferflocken (20 µg pro 100 g) und Walnüsse sind recht biotinreich, 100 g Banane enthalten hingegen 5 µg Biotin.
Darmbakterien können Biotin produzieren
Bereits seit den 40er Jahren ist bekannt, dass auch Darmbakterien Biotin herstellen können, weswegen die ausgeschiedene Menge an Biotin die mit der Ernährung zugeführte übersteigen kann. Zudem wird Biotin im Körper wiederverwertet. Die Biotin-Versorgung in Deutschland ist laut dem Ernährungsbericht der DGE aus dem Jahr 2012 ausreichend, die mediane Zufuhr liegt bei Frauen bei 40 µg/d und bei Männern bei 46 µg/d.
Biotin und rohe Eier
Ein ernährungsbedingter Biotin-Mangel ist selten und tritt dann auf, wenn Menschen beispielsweise eine biotinfreie parenterale Ernährung erhalten oder über längere Zeit viel rohes Eiklar essen. Das darin enthaltene Avidin, ein Glycoprotein, bindet Biotin (und zwar sowohl das nutritive wie auch das durch Darmbakterien produzierte) und hemmt dessen Aufnahme, was auch als „Egg White Injury“ bekannt ist. Da Avidin durch Erhitzen zerstört wird, sind gekochte Eier keine „Biotin-Räuber“.
Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und Schwangerschaft
Es gibt jedoch Risikogruppen, die „leicht“ einen Biotin-Mangel entwickeln können: Bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder Kurzdarmsyndrom kann die Aufnahme von Biotin verringert sein. Ebenso gibt es Hinweise, dass eine längerfristige Antibiotikaeinnahme die Biotin-Versorgung negativ beeinflusst, da die Antibiose Darmbakterien in ihrem Wachstum hemmt und tötet. Auch Schwangere zeigen relativ häufig einen „subklinischen Biotin-Mangel“, so Smollich, und eine Supplementation könne empfohlen werden. Er empfiehlt sodann bei klinisch manifestem, gesichertem Biotin-Mangel Dosierungen von 0,1 bis 1 mg pro Tag. Bei Patienten, die ständig Phenobarbital oder Phenytoin zur Behandlung ihrer Epilepsie einnehmen, können diese Arzneimittel die Biotin-Versorgung stören. Zudem gibt es genetische Ursachen, die für einen Biotin-Mangel verantwortlich zeichnen.
Biotin stört Labormessungen
Im März 2019 informierte die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) in einem Rote-Hand-Brief, dass Biotin zu falschen Kardinalen und Endokrinologischen Laborwerten führen kann. In den USA wurde deshalb bei einem Patienten ein Herzinfarkt nicht erkannt. Der Patient verstarb. Eine erhöhte Anzahl an Fallberichten von falschen Laborwerten infolge einer kürzlichen oder gleichzeitigen Biotineinnahme bei Patienten hatte den Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) dazu veranlasst, in einem Signalverfahren die Biotininterferenz von Laborwerten zu bewerten. Bereits am 11. Februar 2019 veröffentlichte der PRAC seine Empfehlung dazu. Der PRAC empfahl, bei biotinhaltigen Arzneimitteln zum Einnehmen ab einem Wirkstoffgehalt von 150 µg Biotin pro Dosiseinheit und bei biotinhaltigen Arzneimitteln zur parenteralen Anwendung ab einem Gehalt von 60 µg Biotin pro Dosiseinheit die Fach- und Gebrauchsinformationen zu aktualisieren. Auf nationaler Ebene setzte das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) die EMA-Empfehlung für Deutschland um.