Antibabypille bekommt Warnhinweis zu Suizid
Kommt es unter der Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva – „Pille“ – vermehrt zu Selbstmorden (Suizid) oder zu versuchten Selbstmorden? Dieser Frage ging der Ausschuss für Risikobewertung (PRAC) bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) nach. Anlass war eine Studie, die 2017 im Journal of Psychiatry veröffentlicht wurde (siehe unten). Sie fand Hinweise, dass die Einnahme der Antibabypille mit einem höheren Risiko für suizidales Verhalten einhergeht. Nun hat der PRAC das Signalverfahren zum Zusammenhang zwischen hormonellen Kontrazeptiva und Suiziden abgeschlossen und das Ergebnis in seiner letzten Sitzung (1. bis 4. Oktober 2018) bekannt gegeben.
„Signale" als wichtiger Bestandteil der Pharmakovigilanz“
Nicht alle Nebenwirkungen eines Arzneimittels sind direkt bei der Zulassung bekannt. Manche unerwünschten Arzneimittelwirkungen kommen erst durch eine breitere Anwendung an Patienten und somit nach der Zulassung zutage. Aus diesem Grund kommt dem Meldesystem zur Früherkennung von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen im Rahmen der Arzneimittelsicherheit nach erfolgter Zulassung von Arzneimitteln ein wichtiger Stellenwert zu. Die Meldungen können Hinweise – sogenannte Signale – zu neuen Nebenwirkungen sein oder die Häufigkeit einer bereits bekannten Nebenwirkung erhöhen. Neben den Spontanberichten zu Nebenwirkungen können auch Studien oder wissenschaftliche Literatur Signale liefern. Einmal im Monat veröffentlicht die EMA einen Überblick über alle Sicherheitshinweise/Sicherheitssignale, die der Pharmakovigilanz-Risikobewertungsausschuss (PRAC) bei seiner Sitzung diskutiert hat, und seine Empfehlungen, die sich daraus ableiten. Das können – wie im aktuellen Fall – zusätzliche Warnhinweise in der Fach- und Gebrauchsinformation sein. Aber auch, dass weitere Untersuchungen erforderlich sind.
Kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Pille und Suizid
Das Wichtigste vorweg: Der PRAC sieht keinen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme der Antibabypille und dem Auftreten von Selbstmorden. Von einem kausalen Zusammenhang spricht man, wenn eine direkte Beziehung zwischen Ursache und Wirkung besteht, wenn ein Ereignis A (hier die Einnahme der Antibabypille = Ursache) zu Ereignis B führt (hier höhere Rate an Selbstmord = Wirkung).
Auch wenn ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Antibabypille und Suizid nicht festgestellt wurde, können Selbstmorde die Folge von Depressionen sein – und dies ist eine bereits seit langer Zeit bekannte Nebenwirkung, die unter hormonellen Kontrazeptiva auftreten kann. Aus diesem Grund hat der PRAC bestimmte Maßnahmen beschlossen: Die Gebrauchsinformationen und Fachinformationen von hormonellen Verhütungsmitteln sollen künftig um einen neuen Warnhinweis ergänzt werden.
Änderungen in der Fachinformation
Die Fachinformation zu hormonellen Kontrazeptiva ändert sich wie folgt:
4.4. Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung
„Depressive Verstimmung und Depression stellen bei der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva allgemein bekannte Nebenwirkungen dar (siehe Abschnitt 4.8). Depressionen können schwerwiegend sein und sind ein allgemein bekannter Risikofaktor für suizidales Verhalten und Suizid. Frauen sollte geraten werden, sich im Falle von Stimmungsschwankungen und depressiven Symptomen – auch wenn diese kurz nach Einleitung der Behandlung auftreten – mit ihrem Arzt in Verbindung zu setzen.“
Änderungen in der Gebrauchsinformation
Die Gebrauchsinformation ändert sich unter:
2. Was sollten Sie vor der Einnahme von {Bezeichnung des Arzneimittels} beachten?
Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen Psychiatrische Erkrankungen: „Manche Frauen, die hormonelle Verhütungsmittel wie {Bezeichnung des Arzneimittels} anwenden, berichten über Depression oder depressive Verstimmung. Depressionen können schwerwiegend sein und gelegentlich zu Selbsttötungsgedanken führen. Wenn bei Ihnen Stimmungsschwankungen und depressive Symptome auftreten, lassen Sie sich so rasch wie möglich von Ihrem Arzt medizinisch beraten.“
Große Studie aus Dänemark gab Anlass zur Überprüfung
Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva und dem Auftreten von Suiziden oder versuchten Suiziden lieferte eine große Untersuchung aus Dänemark. Die Wissenschaftler untersuchten die Daten von fast einer halben Million Frauen über einen durchschnittlichen Zeitraum von 8,3 Jahren. Die Frauen waren im Alter zwischen 15 und 33 Jahren. Während der Beobachtungszeit (1996 bis 2013) kam es zu 6.999 Selbstmordversuchen und zu 71 Selbstmorden. Damit die Frauen in der Datenauswertung der Wissenschaftler berücksichtigt wurden, durften sie erst während des Untersuchungszeitraumes 15 Jahre alt werden. Zudem durften die Frauen vor dem Alter von 15 Jahren keine hormonellen Verhütungsmittel und auch keine Antidepressiva eingenommen haben. Es durften zuvor keine psychiatrischen Diagnosen gestellt geworden sein, wie beispielsweise eine Depression.
Risiko für Suizid zwei Monate nach Einnahmebeginn am höchsten
Die Untersuchung verglich Frauen, die hormonell verhüteten oder dies bis sechs Monate zuvor taten (Gruppe 1), mit Frauen, die nicht hormonell verhüteten (Gruppe 2). Es zeigte sich, dass hormonell verhütende Frauen (Gruppe 1) ein knapp doppeltes (1,97-fach erhöhtes) Risiko für erste Selbstmordversuche hatten. Das Risiko für einen tatsächlichen Suizid war dreimal so hoch (3,08-fach). Am häufigsten versuchten Frauen unter hormonellen Kontrazeptiva zwei Monate nach Einnahmebeginn sich das Leben zu nehmen.
Die Wissenschaftler untersuchten auch die einzelnen Darreichungsformen hormoneller Verhütungsmittel – oral als „Pille“, intravaginale Ringsysteme (zum Beispiel Nuvaring®, Ginoring®, Cyclelle®) und Hormonpflaster. Für kombinierte orale Verhütungsmittel war das Risiko für einen Selbstmordversuch um 1,91-fach erhöht, bei reinen Gestagenpräparaten (nur Gelbkörperhormon) um 2,29-fach. Unter Verhütungsringen zeigte sich ein 2,58-fach erhöhtes Selbstmordrisiko und unter hormonellen Verhütungspflastern ein 3,28-fach erhöhtes.
Verzerrung der Studienergebnisse möglich
Bei Studien besteht immer die Möglichkeit, dass bestimmte Faktoren das Ergebnis beeinflussen und verzerren. In der beschriebenen Studie zeigten vor allem Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren ein erhöhtes Risiko für Selbstmord. Das könnte – anstelle der hormonellen Kontrazeption – jedoch auch an dieser Altersgruppe liegen. Des Weiteren könnten auch sexuelle Beziehungen die Ergebnisse beeinflusst haben – wobei nicht jede Frau, die hormonell verhütet, automatisch sexuell aktiv ist. Denn manche Frauen nehmen die Antibabypille beispielsweise aufgrund von Menstruationsschmerzen ein. Umgekehrt bedeutet „keine hormonelle Verhütung“ nicht automatisch sexuelle Inaktivität: Die Frauen der Gruppe 2 verhüteten teilweise mit Kupferspirale, Kondom oder „natürlichen“ Methoden.
Die Wissenschaftler kamen damals zu dem Schluss, dass psychische Nebenwirkungen der hormonellen Verhütungsmittel bislang nicht ausreichend Beachtung finden. Ihrer Ansicht nach sollten Ärzte bei der Verordnung von Pille & Co. darüber ausdrücklich informieren.