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Leseprobe PTAheute 18/2018: Von Antoniusfeuer bis LSD: Mutterkornalkaloide

Bild: emer1940 (2) – iStockphoto.com

Nicht nur Pest und Tuberkulose rafften im Mittelalter die Menschen dahin, sondern auch eine Seuche, die der Volksmund Antoniusfeuer nannte. Diese Krankheit wurde auch Kriebelkrankheit, heiliges Feuer oder Brandseuche genannt. Der älteste überlieferte Bericht einer Erkrankungswelle stammt aus dem Jahr 857 und beschreibt eine furchtbare Plage unter der Bevölkerung von Xanten am Niederrhein. Die Kranken litten unter unerträglichen, brennenden Schmerzen und glaubten zu verbrennen. Körperglieder wurden schwarz und fielen ab. Viele Menschen starben oder überlebten schwer verkrüppelt. Es wurden zwei Formen der Krankheit unterschieden: Bei der „brennenden“ Variante verfärbten sich die Glieder schwarz und starben ab. Sie lösten sich manchmal von selbst vom Körper oder wurden amputiert. Bei der krampfartigen Variante kam es zusätzlich zu extrem schmerzhaften und teils lebensbedrohlichen Krampfanfällen und Halluzinationen.

Der heilige Antonius

Antonius (circa 250 bis 350 n. Chr.) lebte als Eremit in der ägyptischen Wüste, wo ihn angeblich der Teufel durch quälende Visionen und Versuchungen von seinem asketischen Leben abzubringen versuchte. Bei den zahlreichen Gläubigen, die ihn in der Wüste besuchten, soll er Dämonen ausgetrieben und wundersame Heilungen vollbracht haben. Seine sterblichen Überreste gelangten über einige Zwischenstationen schließlich in einen kleinen südfranzösischen Ort, der daraufhin Saint-Antoine genannt wurde.

Das Wichtigste in Kürze

  • Mutterkorn (Secale cornutum) ist die Dauerform des Pilzes Claviceps purpurea. Er befällt alle Getreide- und Gräserarten, bevorzugt aber Roggen. Anstelle eines Getreidekorns wächst aus der infizierten Ähre ein längliches, dunkles Gebilde, das giftige Alkaloide enthält.
  • Beim Verzehr löst Mutterkorn schwere Vergiftungen aus. Im Mittelalter wurde Mutterkorn aus Unkenntnis nicht aus dem Getreide entfernt und löste Epidemien durch chronische Vergiftungen aus.
  • Die Vergiftung geht mit schweren Schmerzen und Krämpfen einher und kann zu Erblindung, Verkrüppelung und zum Tod führen.
  • Heute werden die Mutterkornalkaloide Ergotamin, Methylergometrin, Dihydroergotoxin und Bromocriptin medizinisch verwendet.
  • Lysergsäurediethylamid (LSD) wurde ebenfalls aus dem Grundgerüst der Mutterkornalkaloide synthetisiert und gelangte als bewusstseinserweiternde Droge besonders bei der Hippiebewegung zu zweifelhafter Berühmtheit.

Der Aufstieg der Antoniter

An Antoniusfeuer Erkrankte pilgerten bald nach Saint-Antoine, weil sie sich von den Reliquien Genesung erhofften. Um die vielen kranken Pilger zu pflegen, gründete sich im Ort der Antoniter-Orden. Die Pflege der Kranken war so erfolgreich, dass sich der Antoniter-Orden schnell in ganz Westeuropa verbreitete und große Bedeutung erlangte. In den Spitalern der Antoniter wurden ausschließlich an Antoniusfeuer Erkrankte gepflegt – man kann also von den ersten Spezialkliniken Europas sprechen.

Die erfolgreiche Therapie: Ernährungsumstellung

Die Therapie bestand aus verschiedenen Aspekten: Im Mittelalter hatte man keine Erklärung für das Antoniusfeuer, darum wurde die Krankheit als Strafe Gottes angesehen. Um Trost zu finden, mussten die Kranken mehrmals am Tag vor dem Altarbild des heiligen Antonius beten. Abgestorbene Gliedmaßen wurden amputiert. Dabei stellte man fest, dass dies oft schmerzfrei möglich war.

Der sicherlich wichtigste Aspekt der Therapie war die Ernährung. Die Kranken erhielten besonders hochwertige Kost, die unter anderem Weizenbrot, Schweinefleisch und den aus vierzehn Heilkräutern bestehenden Antoniuswein enthielt.

Antoniusfeuer – eine Mutterkornvergiftung

Erst ab dem 17. Jahrhundert setzte sich langsam die Erkenntnis in Europa durch, dass es sich bei dem Antoniusfeuer um eine Lebensmittelvergiftung handelt, die durch verunreinigten Roggen hervorgerufen wird.

Vorher war man davon ausgegangen, dass das auf der Roggenähre schmarotzende Mutterkorn (Secale cornutum) ein natürlicher Bestandteil des Roggens sei, und hatte es vor dem Mahlen nicht entfernt. Tatsachlich handelt es sich um das Sklerotium (verhärtete Dauerform) des Schlauchpilzes Claviceps purpurea. Nach der Infektion der Roggenähre wachst anstelle eines Roggenkorns ein dunkelbraun-violettes längliches Gebilde, das stark wirksame Alkaloide enthalt. Je nach Witterung wurden große Anteile des Getreides befallen, was zu den epidemieartigen Krankheitsausbrüchen mancher Jahre führte.

Die „besseren“ Menschen blieben verschont

Die Vorstellung, die Krankheit sei eine Strafe Gottes, wurde lange durch die Tatsache genährt, dass Mönche und Reiche – nach damaligem Verständnis die besseren Menschen – viel seltener an Antoniusfeuer erkrankten.

Der Grund war, dass sich der ärmere Teil der Bevölkerung im Mittelalter hauptsachlich von Roggenprodukten ernährte, wogegen sich Reiche und Mönche eine gemischte Ernährung leisten konnten. Sie aßen mehr Fleisch und konsumierten eher Weizen als Roggen.

Weizen wird viel seltener von Mutterkorn befallen als Roggen. So war es möglich, durch die einseitige, tägliche Ernährung der Ärmeren mit Roggen eine chronische Mutterkornvergiftung zu entwickeln. Wurde der Kranke im Antoniter-Spital auf mutterkornfreie Kost umgestellt, konnte die Vergiftung abklingen.

Dem Pilzbefall vorbeugen

Mutterkornbefall ist zwar auch heute noch möglich, allerdings kann man durch tieferes Pflügen der Acker und durch den Einsatz von Pilzgiften vorbeugen.

Das Getreide wird vor dem Vermahlen gesiebt, um das größere Mutterkorn abzutrennen.

Eine Abtrennung ist auch durch automatische optische Erkennung möglich. In der EU gilt für Getreide ein Grenzwert von maximal 0,05 Prozent Mutterkorn. Die einzig denkbare Möglichkeit, sich heute mit Mutterkorn zu vergiften, wäre nicht zertifiziertes Getreide oder Mehl, das direkt vom Landwirt bezogen wird.

Die verschiedenen Formen des Ergotismus

Bei einer Mutterkornvergiftung spricht man wegen der enthaltenen Ergotalkaloide heute von Ergotismus. Alkaloide besitzen ein komplexes Wirkspektrum, da sie sowohl α-Adrenozeptoren als auch Dopamin- und Serotoninrezeptoren beeinflussen.

In Bezug auf die chronische Vergiftung ist, vor allem durch den Einfluss auf α-Adrenozeptoren, die gefäskontrahierende Wirkung und damit eine arterielle Durchblutungsstörung der Extremitäten wichtig. Die Vergiftungssymptome beginnen mit Ameisenlaufen („Kriebeln“), Pelzigwerden der Finger, feuriger Rötung und können bis zu extremen Schmerzen und zum Gangran fuhren. Das bedeutet, dass Teile des Gewebes nekrotisieren und mumifizieren. Tatsachlich kann sich das nekrotische Gewebe auch von selbst ablösen. Die Vergiftung kann nicht nur zur Verkrüppelung, sondern auch zu Erblindung, Demenz und letztlich zum Tod fuhren.

Die konvulsive Variante der chronischen Vergiftung zeigt zentralnervöse Störungen, Persönlichkeitsveränderungen sowie chronische Krämpfe und Lähmungen.

Bei einer akuten Vergiftung können sich Übelkeit, Diarrhö, starke Bauchschmerzen, Schweißausbrüche, Pulsverlangsamung, Augenflimmern und Parästhesien in den Extremitäten einstellen. Durch Atemlähmung oder Herzstillstand kann der Tod eintreten.

Mutterkorn als Mittel der Hebammen

Mutterkorn wurde schon im Altertum von Hebammen in der Geburtshilfe eingesetzt, denn es bewirkt eine Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur. Dadurch wurde es als Abtreibungsmittel verwendet, während der Geburt zur Anregung der Wehen und auch in der Nachgeburtsphase zum Stillen der Blutung.

Durch den schwankenden Alkaloidgehalt war die Dosierung allerdings immer sehr schwierig und die Gabe von Mutterkornpulver damit sehr gefährlich. Daher ist es in dieser Indikation heute obsolet. Stattdessen wird zum Beispiel das Hormon Oxytocin eingesetzt, um die Geburt einzuleiten und die Wehen anzuregen oder zu verstärken.

Mutterkornalkaloide in der Pharmazie

Die Erforschung der Mutterkornalkaloide begann im 19. Jahrhundert. Der Pilz enthält circa 30 verschiedene Ergotalkaloide, die sich strukturell sehr ähnlich sind. Als erstes reines Alkaloid wurde im Jahr 1918 Ergotamin durch Arthur Stoll isoliert.

Ergotamin wird auch heute noch wegen der gefäßkontrahierenden Wirkung zur Behandlung von Migräneanfällen eingesetzt (z. B. Ergo-Kranit® Migräne Tabletten).

Außer Ergotamin werden nur noch die partialsynthetisch erzeugten Verbindungen Dihydroergotoxin (= Codergocrin, ein Gemisch aus drei verschiedenen Alkaloiden), Methylergometrin und Bromocriptin verwendet.

Dihydroergotoxin bei Demenz

Die Zulassung von Dihydroergotoxin wurde 2014 wegen der Gefahren von Fibrose und Ergotismus eingeschränkt, es ist derzeit nur noch zur Behandlung demenzieller Hirnleistungsstörungen im Alter (z. B. Hydergin® forte 2 mg Tabletten) zugelassen. Dihydroergotoxin verstärkt die Wirkung von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern. Makrolide und Tetracycline können den gefäßverengenden Effekt von Dihydroergotoxin verstärken.

Methylergometrin in der Frauenheilkunde

Methylergometrin besitzt keine gefäßverengenden Effekte und greift wie das Hormon Oxytocin direkt an der Muskulatur der Gebärmutter an. Wie Oxytocin erzeugt es rhythmische Kontraktionen, allerdings ist die Gefahr einer Dauerkontraktion höher. Nebenwirkungen sind Übelkeit und Erbrechen.

Methylergometrin darf nur noch bei mangelnder Rückbildung der Gebärmutter und verstärkter Nachgeburtsblutung bei nicht stillenden Müttern angewendet werden. Außerdem wird es bei verstärkter Blutung nach einem Abort eingesetzt.

Bromocriptin bei Parkinson

Bromocriptin ist ein halbsynthetisches Ergotalkaloid und hat dopaminerge Eigenschaften. Daher wird es bei Morbus Parkinson angewendet, um den Dopaminmangel auszugleichen. Bromocriptin ist weniger wirksam als L-Dopa, aber es kann den Effekt von L-Dopa verstärken. Wenn es frühzeitig gegeben wird, kann es auch die Wirkungsschwankungen von L-Dopa verringern.

Über die dopaminerge Wirkung senkt Bromocriptin den Prolactinspiegel und wird daher bei prolactinbedingter Amenorrhö, Sterilität und unter bestimmten Voraussetzungen zum Abstillen angewendet. Bei Akromegalie senkt Bromcriptin die Somatropin-Ausschüttung und hemmt damit das Fortschreiten der Krankheit.

Wie erkläre ich es meinem Kunden? 

„Ihr Arzt hat Ihnen dieses Medikament gegen Migräne verordnet. Während eines Migräneanfalls sind die Blutgefäße im Gehirn geweitet. Dieser Wirkstoff kann die erweiterten Gefäße wieder verengen. Allerdings können auch alle anderen Gefäße enggestellt werden. Daher dürfen Sie das Mittel nicht öfter als nach der Anweisung Ihres Arztes anwenden. Es besteht sonst die Gefahr, dass Ihre Hände und Füße durch die schlechtere Durchblutung geschädigt werden.“

Nebenwirkungen und Kontraindikationen

Alle Mutterkornalkaloide haben einen dopaminergen Effekt und können daher Übelkeit und Erbrechen auslösen. Sie dürfen nicht bei bestehenden Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Hypertonie, Gefäßerkrankungen und in der Schwangerschaft und Stillzeit gegeben werden.

LSD – eine Zufallsentdeckung 

Ein weiterer Abkömmling des Mutterkorns wurde 1943 bei der Firma Sandoz von Albert Hofmann entdeckt.

Hofmann beschäftigte sich als Chemiker mit der Entwicklung neuer Medikamente aus Mutterkorn. Er synthetisierte aus der Lysergsäure – dem Grundgerüst aller Mutterkornalkaloide – Lysergsäurediethylamid, kurz: LSD.

Durch Zufall entdeckte er die halluzinogene Wirkung dieses Substanz. Wenig später testete er LSD noch einmal an sich selbst und ließ sich dabei von seiner Assistentin betreuen. Er berichtete sowohl von eindrucksvollen optischen Halluzinationen und dass Geräusche sich in Farben verwandelten, als auch von Angst und dem Gefühl der Bedrohung.

Unter dem Namen Delysid wurde LSD 1947 von Sandoz in den Handel gebracht und war indiziert zur Anwendung in der Psychoanalyse. Einerseits sollte es beim Patienten verdrängte Probleme oder Traumata freisetzen, andererseits sollte der Therapeut selbst durch die Einnahme dazu gebracht werden, die Psychose der Patienten besser zu verstehen.

Wirkungen von LSD 

Pharmazeutisch betrachtet löst LSD schizophrenieähnliche Störungen aus, der Anwendende hat jedoch ein sehr intensives Erlebnis mit optischen und akustischen Halluzinationen und einem veränderten Zeitgefühl. Allerdings kann es auch zum Horrortrip mit quälenden Bildern und Ängsten kommen. Gefahren der Anwendung sind Selbstüberschätzung während des Trips (z. B. aus dem Fenster springen wegen des Gefühls, fliegen zu können) oder Suizidgefahr beim Horrortrip. Möglich sind auch bleibende Psychosen und Flashbacks.

Exzessiver Missbrauch

LSD erlangte vor allem in den 60er-Jahren Berühmtheit und wurde zur Modedroge der Hippiebewegung. Eine ganze Generation von Musikern nutzte die bewusstseinserweiternde Wirkung zur Erschaffung psychedelischer Musik. Der Beatles-Song „Lucy In The Sky With Diamonds“ soll ein Hinweis auf LSD sein, die Beatles haben dies aber stets dementiert. Quelle: Rebekka Pavone
Apothekerin
autor@ptaheute.de