Sollte Organspende in Deutschland zur Pflicht werden?
Sollte eine Organspende freiwillig erfolgen oder zur Pflicht werden? Die Frage um ein neues Gesetz wird in Ärzte- und Politikerkreisen hoch kontrovers diskutiert. Seit November 2012 gilt in Deutschland die sogenannte Entscheidungslösung: Die Krankenkassen müssen ihre Mitglieder regelmäßig anschreiben und informieren - eine Aktion, die nach Schätzung des Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen alle zwei Jahre grob geschätzt rund 60 Millionen Euro kostet. Menschen können der Entnahme etwa mit einem Organspendeausweis zustimmen. In Spanien, Italien, Norwegen, Schweden, Luxemburg, Österreich, Frankreich und seit Februar dieses Jahres auch in den Niederlanden gilt hingegen die sogenannte Widerspruchslösung. Dabei wird jeder volljährige Bürger automatisch als Organspender registriert. Wer das ablehnt, muss sich melden.
Befürworter sehen große Chancen
Der Deutsche Ärztetag in Erfurt hat sich Anfang Mai klar für die Widerspruchslösung ausgesprochen. "Aus medizinischer Sicht, vor allem aber aus Sicht der vielen schwerkranken Patienten auf der Warteliste wäre eine solche Regelung der Idealfall", sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer. "Man sollte von den Bürgerinnen und Bürgern verlangen können, dass sie sich nach der gesetzlich vorgeschriebenen Aufklärung durch die Krankenkassen mit der Problematik auseinandersetzen und im Falle einer Ablehnung ihr Nein zur Organspende formulieren." Vorher müssten "mit großer Sensibilität" ethische, religiöse und rechtliche Fragen diskutiert werden. Man dürfe nicht riskieren, dass die Menschen weiter verunsichert werden und sich am Ende komplett verschließen.
Erklärter Befürworter einer Widerspruchslösung ist auch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. "Für mich ist das ganz klar die Lösung, die ich bevorzuge - als Politiker und als Arzt. Wir könnten damit so vielen Menschen den Tod ersparen oder ein besseres Leben ermöglichen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Politisch "sollten wir uns in diese Richtung bewegen", gesellschaftlich "sollten wir diese Diskussion führen". Dass sich Deutschland schwerer tut mit einer Widerspruchslösung als seine Nachbarländer, liegt seiner Ansicht nach daran, "dass in Deutschland das Misstrauen gegen den Staat und seine Institutionen besonders stark ist". Ob in der laufenden Legislaturperiode eine Änderung realistisch ist, ist fraglich. "Ich persönlich werde alles, was ich kann, dafür tun", verspricht Lauterbach.
Kritiker befürchten Vertrauensverlust
Kritisch steht einer Widerspruchregelung Rudolf Henke gegenüber, der Vorsitzende der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund. Das Transplantationswesen lebe vom Vertrauen der Menschen - und Henke glaubt nicht, dass das Vertrauen durch eine Widerspruchslösung gestärkt wird: "Es ist eher das Gegenteil zu befürchten." Es habe wenig Sinn, "eine große Kontroverse anzuzetteln": "Man muss mit den Leuten reden, sie überzeugen und die Organisation der Organtransplantation in den Kliniken verbessern."
Bevölkerung denkt positiv - doch aktuelle Zahlen sprechen dagegen
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen steht dem Thema Organspende - jüngsten Skandalen bei der Vergabe von Organen zum Trotz - zugewandt gegenüber. 84 Prozent sehen Organspenden "eher positiv", wie eine neue Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ergab. Die Positiv-Antworten steigen von Jahr zu Jahr. 36 Prozent der Bevölkerung besitzen laut BZgA einen Organspendeausweis. 72 Prozent dieser Ausweisbesitzer willigen in eine Organspende nach dem Tod ein.
Auch eine Umfrage der Barmer-Krankenkasse ergab, dass sich eine Mehrheit ihrer gut neun Millionen Versicherten für eine grundsätzliche Organspendepflicht ausspricht. Von 1000 Befragten seien 58 Prozent dafür, dass jeder im Todesfall automatisch seine Organe spenden sollte, sofern nicht zu Lebzeiten widersprochen wurde. Die Zahl der Versicherten mit einem Organspendeausweis ging seit April 2017 um 6 Punkte auf 36 Prozent hoch. Junge Menschen haben häufiger einen Organspendeausweis als Ältere: 46 Prozent der 18- bis 25-Jährigen gaben an, einen solchen Ausweis zu besitzen. Bei den 51- bis 64-Jährigen sind es nur 34 Prozent.
Dennoch sprechen die aktuellen Zahlen gegen den Erfolg einer "Entscheidungslösung": 2017 hat die Anzahl der Organspender in Deutschland einen neuen Tiefpunkt erreicht. Laut DSO gab es nur noch 797 Spender - nochmal 60 weniger als im Vorjahr. Das war der niedrigste Stand seit 20 Jahren. In Deutschland gibt es jetzt weniger als zehn Spender pro eine Million Einwohner. Axel Rahmel, medizinischer Vorstand der DSO, spricht von "einer dramatischen Entwicklung". Von den über zehntausend Kranken, die auf ein Spenderorgan warten, sterben täglich statistisch gesehen drei, weil für sie nicht rechtzeitig ein passendes Organ verfügbar ist, weiß die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) in Frankfurt. Auf eine Niere - das am häufigsten benötigte Spenderorgan - warten etwa viermal so viele Menschen, wie es Organe gibt. Durchschnittliche Wartezeit: etwa sechs Jahre. Quelle: dpa / msw