MS und schwanger: Welche Arzneimittel sind sicher?
Multiple Sklerose (MS), zumindest die schubförmige MS, trifft Frauen etwa zwei- bis dreimal häufiger als Männer und beginnt in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren – MS beeinflusst damit die Familienplanung erheblich.
MS wirkt sich „per se nicht negativ auf eine Schwangerschaft aus hinsichtlich Spontanaborten, Schwangerschaftsverlauf, Geburt und frühkindliche Entwicklung“, erklären die Autoren der 2023 aktualisierten S2k-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS.
Allerdings wenden viele Patientinnen krankheitsmodifizierende Therapien an. Daraus ergibt sich die Frage: Wie beeinflussen MS-Arzneimittel eine Schwangerschaft und das Baby?
Zur Erinnerung: Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn, das Rückenmark und die Nervenfasern betrifft. Weltweit leben rund 2,8 Millionen Menschen mit der Autoimmunerkrankung, bei der das eigene Immunsystem die Ummantelung (Myelinscheiden) der Nervenbahnen (Axone) angreift und beschädigt.
Botschaften, die über die Nerven transportiert werden, kommen in der Folge immer langsamer und ohne medizinische Behandlung gar nicht mehr an.
Doch gibt es nicht „das eine“ typische Krankheitsbild. Symptome und Anzeichen können komplett unterschiedlich und für Außenstehende nicht direkt zu erkennen sein. MS wird daher auch als die Krankheit der 1.000 Gesichter bezeichnet.
Häufig sind Koordinationsprobleme, Sehstörungen oder Lähmungen. Aber auch Gefühlsstörungen der Haut, die sich als Kribbeln, Missempfindungen oder Taubheitsgefühl äußern, sind möglich. Viele berichten von „Fatigue“, einem Zustand massiver, oftmals unerklärlicher und vor allem wiederkehrender Erschöpfung.
Schwangerschaft: Welche MS-Arzneimittel sind kontraindiziert?
Interferone (IFN) und Glatirameracetat (z. B. Copaxone®, Clift®) gelten als sicher während der Schwangerschaft – beide Arzneistoffe zeigen im Menschen weder ein teratogenes noch abortives Potenzial.
„Beta-Interferone und Glatirameroide können nach Risiko-Nutzen-Abwägung bei Frauen mit hoher Krankheitsaktivität während der Schwangerschaft fortgeführt werden“, steht in der Leitlinie.
Cladribin (Mavenclad®), Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Rezeptormodulatoren wie Fingolimod (Gilenya® und Generika), Siponimod (Mayzent®), Ozanimod (Zeposia®) und Ponesimod (Ponvory®) sowie Teriflunomid (Aubagio®) sind dagegen kontraindiziert.
Bei Schwangerschaft: Die meisten Frauen beenden MS-Therapie
Seit November 2006 sammelt und vergleicht das deutschsprachige Multiple Sklerose Kinderwunschregister des Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum (DMSKW) Daten von schwangeren MS-Patientinnen mit und ohne DMT (Disease modifying Therapy, krankheitsmodifizierender Therapie). Die Wissenschaftler veröffentlichten ihre Analyse im Fachjournal „The Lancet Regional Health Europe“.
Bis Juni 2023 analysierten sie 3722 Schwangerschaften, 2885 mit krankheitsmodifizierender Therapie und 837 ohne DMT. Die meisten Frauen mit DMT (bei 2.260 von 2.885 Schwangerschaften 78,3 %) beendeten ihre krankheitsmodifizierende Therapie im Median 7,4 Wochen vor der Schwangerschaft oder nach 4,4 Schwangerschaftswochen.
Bei 11,3 % der Schwangerschaften (327 von 2.885) behielten die Frauen die krankheitsmodifizierende Therapie während der Schwangerschaft bei. Sie waren am häufigsten auf Interferon-β (n = 81), Glatirameracetat (n=88) und Natalizumab in Tysabri® (n = 152) eingestellt, sechs Patientinnen wendeten Dimethylfumarat (z. B. Tecfidera®) an.
Manche MS-Patientinnen starteten auch eine neue Behandlung während der Schwangerschaft.
Schwangerschaften mit MS häufig mit gutem Ausgang
Grundsätzlich gab es laut den Studienautoren nur „selten“ negative Schwangerschaftsausgänge: Insgesamt kamen bei 3.722 Schwangerschaften vier Babys tot zur Welt: je ein Baby bei unexponierter Schwangerschaft (Schwangerschaft ohne MS-Therapie), IFN-β, Fumarat und S1P-Rezeptormodulator.
Es gab fünf extrauterine Schwangerschaften (befruchtete Eizelle erreicht nicht die Gebärmutter, z. B. bei einer Eileiter-Schwangerschaft): je ein Baby bei unexponierter Schwangerschaft, Fumarat, S1P-Rezeptormodulator, Natalizumab und CD20-AK.
Und in 21 Fällen entschieden sich die Schwangeren für einen elektiven Schwangerschaftsabbruch (einen induzierten Abort, basierend allein auf dem Wunsch der Schwangeren).
Bei 8,2 % der Schwangerschaften, die vor der 22. Schwangerschaftswoche mit der Studie begonnen hatten, kam es zu Spontanaborten (245 von 2.977). Dies unterteilt sich z. B. auf 6,4 % bei nicht exponierten Schwangeren, 7,9 % unter IFN-β, 7,0 % unter Glatirameracetat, 3,4 % unter Teriflunomid, 8,3 und 11,3 % unter Dimethylfumarat und S1P-Rezeptormodulatoren, 10,0 und 11,0 und 9,2 % unter den Antikörpern Alemtuzumab, Natalizumab und gegen CD20-B-Zellen. Die Unterschiede waren jedoch zwischen den DMT-exponierten und nicht exponierten Schwangeren nicht signifikant.
Waren die Frauen bereits vor der sechsten Schwangerschaftswoche in der Studie (n = 381), lag die Fehlgeburtenrate mit 20,2 % (77 von 381) zwar deutlich höher, doch auch hier gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Studiengruppen. Prozentual am häufigsten kam es sogar unter nicht exponierten Schwangeren zu einem Abort (27,8 %). Zur Erinnerung: Das Risiko einer Fehlgeburt ist in den ersten Wochen einer Schwangerschaft grundsätzlich am höchsten.
Häufiger Frühgeburten unter Teriflunomid
14 der 3.498 lebend geborenen Babys starben als Neugeborene, die meisten aufgrund von Frühgeburtlichkeit, eines wegen multipler schwerer Fehlbildungen (nicht exponierte Gruppe) und ein Baby ohne ersichtlichen Grund.
Am häufigsten kam es unter Teriflunomid statistisch signifikant zu einer Frühgeburt (21 %; 7 von 32 verglichen mit nicht exponierten Patientinnen 9 %).
Babys von Frauen mit MS bei Geburt meist leichter
Die Wissenschaftler interessierten sich auch für das Geburtsgewicht und die Größe des Babys während der Schwangerschaft. Ein geringes Geburtsgewicht sowie ein für das Gestationsalter zu kleines Baby zählen zu den Risikofaktoren für fetale und neonatale Todesfälle und auch für spätere Erkrankungen wie Diabetes mellitus und kardiovaskuläre Erkrankungen.
Verglichen mit der Gesamtkohorte der deutschen Bevölkerung waren die Neugeborenen der MS-Patientinnen leichter bei der Geburt: Mädchen um 92 g und Jungen um 115 g (40. Schwangerschaftswoche).
Das deckt sich mit früheren Untersuchungen, die ebenfalls ein geringeres Geburtsgewicht der Neugeborenen von Frauen mit MS verglichen mit Neugeborenen von gesunden Frauen gefunden hatten.
Analysiert man die Therapien, hatte eine S1P-Rezeptormodulator-Exposition den ausgeprägtesten Effekt auf ein reduziertes Geburtsgewicht (–132 g; KI = –205 g bis –60 g). Wendeten die Patientinnen im letzten Trimenon Natalizumab an, so waren die Neugeborenen ebenfalls leichter bei Geburt (–74 g; KI = –138 g bis –9,4 g).
Frauen mit MS: Neugeborene klein für Gestationsalter
Bei Frauen mit MS und ohne krankheitsmodifizierende Therapie während der Schwangerschaft waren 17,6 % der Neugeborenen klein für das Gestationsalter. Unter hochwirksamen DMT waren es 22 % – verglichen mit 10 % der Neugeborenen von Frauen ohne MS in Deutschland.
„Unsere Daten stützen die anhaltende Diskussion über fetale Wachstumsverzögerungen, die auf MS selbst zurückzuführen sein könnten, wie zuvor sowohl bei exponierten als auch nicht exponierten MS-Patientinnen berichtet wurde“, schreiben die Studienautoren.
Bestimmte Mechanismen könnten eine rein MS-bedingte fetale Wachstumsverzögerung erklären. So könnte eine neuronale Dysfunktion der Beckenorgane, Harnwegs- und andere Infektionen, ein Vitamin-D-Mangel der Mutter oder andere Begleiterkrankungen zu suboptimalen intrauterinen Bedingungen führen.
Darüber hinaus konnten die Studienautoren den größten Effekt auf ein verhältnismäßig zu kleines Gestationsalter vor allem unter S1P-Rezeptormodulator- und CD20-Antikörper-Exposition beobachten (27,4 und 24,1 %).
Das Risiko war unter S1P-Rezeptormodulatoren statistisch signifikant um 65 % höher (OR = 1,65, KI = 1,07–2,50) und unter CD20-Antikörpern um 54 % höher (OR = 1,54, KI = 1,01–2,32), jeweils verglichen mit nicht exponierten Frauen, wobei unter B-Zell-depletierenden Antikörpern den Wissenschaftlern zufolge das durchschnittliche Geburtsgewicht noch mit dem der deutschen Bevölkerung übereinstimmte.
Häufigkeit von schweren angeborenen Fehlbildungen nicht signifikant
Die Studienautoren geben die Häufigkeit von schweren angeborenen Fehlbildungen (MCA, major congenital Anomalies) mit 3,8 % an, was „leicht“ über dem Hintergrundrisiko für die allgemeine deutsche Bevölkerung liege (2,8 %).
Allerdings sei der Vergleich, wie häufig es zu schweren angeborenen Fehlbildungen komme, schwierig, erklären die Wissenschaftler, da unterschiedliche Methoden angewendet würden.
Nach krankheitsmodifizierender Therapie aufgeschlüsselt war die Prävalenz für schwere angeborene Fehlbildungen unter Teriflunomid (12 %; n = 3 von 25) und Alemtuzumab (10,5 %; n = 2 von 19) am höchsten.
Allerdings sei bislang keine Teratogenität der beiden Arzneimittel bekannt, und es waren nur wenige Frauen den beiden Arzneimitteln während der Schwangerschaft ausgesetzt – zu wenige, um eine Teratogenität abschließend zu beurteilen.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) fordert Daten von mindestens 1.000 im ersten Trimester exponierten Schwangerschaften, um die reproduktive Sicherheit eines Arzneimittels zu bewerten. Diese Daten existieren lediglich für die seit längerer Zeit zugelassenen und angewandten Wirkstoffe Interferon-beta und Glatirameracetat.
Eine Teratogenität von Alemtuzumab kurz vor oder am Anfang der Schwangerschaft halten die Studienautoren für unplausibel, da der Antikörper die Plazenta aktiv erst ab dem zweiten Trimester überschreitet, wenn die sensible Phase der Organogenese abgeschlossen ist.
Die Wissenschaftler beobachten zudem ein Risiko für schwere angeborene Fehlbildungen unter S1P-Rezeptormodulatoren von 5,3 % (nicht signifikant) – was sie überraschte, da die Wirkstoffe mit einem „zweifach erhöhten teratogenen Risiko in Verbindung gebracht“ würden.
In ihrem Kollektiv hätten die Kinder vor allem angeborene Herzfehler und Nierenfehlbildungen gezeigt: „Unsere Daten können nicht bestätigen, ob S1P-Rezeptormodulatoren teratogen sind“, sagen die Studienautoren.
Dennoch sei es biologisch plausibel, da die kleinen Moleküle die Plazentaschranke überwänden und die S1P-Rezeptorsignalgebung blockierten – ein kritischer Prozess für die Gefäßbildung während der Embryogenese.
MS und Schwangerschaft: Wie häufig kommt es zu Infektionen?
Insgesamt gab es nur „selten“ schwere Infektionen während der Schwangerschaft, wobei lediglich Schwangerschaften ausgewertet wurden, die länger als 22 Wochen bestanden (1,6 %; 54 von 3452).
Dennoch fiel auf: Signifikant häufiger als nicht exponierte Frauen litten Schwangere an schweren Infektionen, wenn sie Dimethylfumarat (11 von 395: 2,8 % vs. 8/837: 1,0 %) oder Alemtuzumab (2 von 22: 9,1 % vs. 8/837: 1,0 %) erhielten.
Allerdings bleibe dieser Anstieg der Infektionen „schwierig abschließend zu klären“, sagen die Studienautoren, da schwere Infektionen in der Kohorte grundsätzlich nur selten auftraten. Dennoch halten sie diese aufgrund der Wirkung der beiden Arzneimittel für plausibel.
Die Wissenschaftler beobachteten zudem einen höheren Einsatz von Antibiotika bei Schwangeren, die Natalizumab (zweites und drittes Trimester) und CD20-Antikörper erhielten. Auch das könnte darauf hindeuten, dass diese Therapien das Immunsystem häufiger behandlungsbedürftig schwächen.
Jüngst berichteten Wissenschaftler in einer schwedischen Kohortenstudie ebenfalls über ein erhöhtes Infektionsrisiko unter dem CD20-Antikörper Rituximab und unter Natalizumab im Vergleich zu nicht exponierten Schwangerschaften.
Das Auswerten von Infektionen ist deshalb wichtig, da sie spontane Aborte, Totgeburten, Frühgeburten und ein geringes Geburtsgewicht bedingen können.
Therapie mit IFN-β und Glatirameracetat sicher in Schwangerschaft
Abschließend halten die Studienautoren IFN-β und Glatirameracetat für „sichere Behandlungsoptionen in der frühen Schwangerschaft“, ebenso und trotz der erhöhten Infektionsanfälligkeit Dimethylfumarat.
Hingegen raten sie von S1P-Rezeptormodulatoren ab, da sie das Risiko des Babys erhöhten, zu klein für das Gestationsalter zu sein, auch hätte die Wirkstoffgruppe ein „potenziell erhöhtes Risiko für schwere angeborene Fehlbildungen“.
Für Frauen mit hochaktiven MS-Verläufen halten sie Natalizumab und CD20-Antikörper für eine „vielversprechende Therapieoption“. Denn auch wenn das Schubrisiko während der Schwangerschaft in der Regel sinkt, benötigen Frauen mit hoher Krankheitsaktivität eine wirksame MS-Therapie.
Bei hoher Krankheitsaktivität kommen auch Natalizumab und CD20-Antikörper der Wirksamkeitskategorie 3 (Reduktion der Schubrate um > 60 % im Vergleich zu Placebo oder > 40 % im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1) zur Anwendung. Quelle: https://www.thelancet.com/journals/lanepe/article/PIIS2666-7762(24)00306-5/fulltext