Was ist eigentlich das Bardet-Biedl-Syndrom?
Etwa ein Mensch unter 125.000 ist vom Bardet-Biedl-Syndrom betroffen. Die autosomal-rezessiv vererbte Krankheit wurde vor rund 100 Jahren von den Ärzten Georges Bardet (1885–1966) und Artur Biedl (1869–1933) beschrieben. Sie prägt sich individuell unterschiedlich aus und kann das Leben der Patienten schwer beeinträchtigen.
Wie sich das Bardet-Biedl-Syndrom äußern kann
Das vielgestaltige Krankheitsbild ist durch sechs Hauptsymptome charakterisiert, die allerdings nicht immer alle zusammen auftreten:
- Krankhafte Veränderungen der Netzhaut, bei der die Photorezeptoren (Stäbchen und Zapfen) absterben (Retinitis pigmentosa). Die Netzhautdegeneration beginnt meist schon in der frühen Kindheit, wodurch die Patienten bereits als Jugendliche oder junge Erwachsene stark sehbehindert sind.
- Adipositas tritt bei fast allen vom Bardet-Biedl-Syndrom Betroffenen in unterschiedlichem Ausmaß auf. Sie beginnt bereits im Kindesalter und nimmt weiter zu. Die Ursache der Fettleibigkeit ist ein fehlendes Sättigungsgefühl und eine dadurch bedingte übermäßige Nahrungszufuhr (Hyperphagie).
- Überzählige Finger und/oder Zehen (Polydaktylie). Dieses Merkmal ist ein wichtiger Hinweis auf das mögliche Vorliegen eines Bardet-Biedl-Syndroms. Es tritt bei circa 70 Prozent der Betroffenen auf. Da aber zusätzliche Finger oder Zehen meist im frühen Säuglingsalter operativ entfernt werden, gerät dieses Charakteristikum leicht in Vergessenheit. Das kann die spätere Diagnosestellung erschweren.
- Verzögerung der intellektuellen Entwicklung. Oft ist die Sprachentwicklung verzögert. Außerdem können Aufmerksamkeits- und Denkschwächen, Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen auftreten.
- Nierenfehlbildungen und -funktionsstörungen. Art und Ausmaß der Nierenerkrankungen sind ganz unterschiedlich, können aber bis zum Nierenversagen führen.
- Hypogonadismus: Es kommt zur Unterentwicklung der Geschlechtsorgane mit reduzierter Fertilität oder Unfruchtbarkeit.
Außerdem können zahlreiche weitere Symptome auftreten, unter anderem Grauer Star, Schielen, Herz- und Lebererkrankungen, Wachstumsstörungen sowie Zahnfehlbildungen.
Zilienstörung für breites Symptomenspektrum verantwortlich
Ursache des Bardet-Biedl-Syndroms sind durch Genmutationen hervorgerufene Abnormitäten von Primärzilien. Dies sind dünne, wimpernartige, unbewegliche Strukturen auf der Zelloberfläche, die der Signalübertragung zwischen den Zellen dienen.
Beim Bardet-Biedl-Syndrom ist folglich die Zellkommunikation gestört. Da die Primärzilien auf den meisten Zellen im Körper vorhanden sind, kann ihre Funktionsstörung viele Gewebe und Organe betreffen. Dies erklärt das große Spektrum an Krankheitszeichen. Das Bardet-Biedl-Syndrom wird zur Gruppe der sogenannten Zilienerkrankungen (Ziliopathien) gezählt.
Vielfältige therapeutische Maßnahmen
Wegen der Vielgestaltigkeit des Krankheitsbildes ist eine Diagnose des Bardet-Biedl-Syndroms oft schwierig. Bei Verdacht auf die Erkrankung schafft ein Gentest Klarheit.
Eine ursächliche Therapie für das gesamte Störungsspektrum der Erkrankung gibt es bisher nicht. Die Patienten benötigen meist eine multidisziplinäre Betreuung durch verschiedene Fachärzte sowie Fördermaßnahmen, technische Hilfsmittel und diätetische Unterstützung.
Seit Kurzem kann jedoch das übermäßige Hungergefühl und damit die Gewichtszunahme beim Bardet-Biedl-Syndrom gezielt medikamentös behandelt werden. Hierfür steht das subkutan injizierbare Arzneimittel Setmelanotid (Imcivree®) zur Verfügung. Quellen:
ERKNet – The European Rare Kidney Disease Reference Network;
knw Kindernetzwerk e.V.;
Johannes Gutenberg-Universität Mainz;
Rhythm Pharmaceuticals
Bardet-Biedl-Syndrom in Kürze
- Seltene, genetisch bedingte Krankheit; autosomal-rezessiv vererbt; zählt zu den Zilienerkrankungen.
- Funktionsstörungen der Primärzilien auf der Oberfläche von Körperzellen führen zu zellulären Signalverarbeitungsstörungen; dadurch vielgestaltiges Krankheitsbild unterschiedlicher Schwere.
- Hauptsymptome: Netzhautdegeneration, Adipositas, Polydaktylie (überzählige Finger/Zehen), geistige Entwicklungsverzögerung, Nierenstörungen, Hypogonadismus.
- Häufigkeit circa 1:125.000.
- Symptomatische Behandlung und Unterstützung; neuerdings gezielte medikamentöse Therapie der krankheitsbedingten Hyperphagie und zur Gewichtsreduktion mit Setmelanotid (Imcivree®).