Serum Neurofilament Light Chain (sNfL): Biomarker könnte Verlauf der MS voraussagen
Neben wirksamen Arzneimitteln sind für eine adäquate Behandlung von Multipler Sklerose (MS) auch Informationen über den wahrscheinlichen Krankheitsverlauf hilfreich. Nicht bei jedem Menschen mit MS verläuft die Erkrankung gleich – manche Patienten zeigen milde Verlaufsformen, bei anderen hingegen verläuft die MS hochaktiv. Dies bedingt die Auswahl der immunmodulatorischen Arzneimittel.
So kommen beispielsweise Interferon (Avonex®) oder Glatirameracetat (Copaxone®) bei schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose zur Anwendung (Wirksamkeitskategorie 1 der S2k-Leitlinie von 2021), während Menschen mit hochaktiver MS beispielsweise Cladribin (Mavenclad®) und Fingolimod in Gilenya® (Wirksamkeitskategorie 2 der S2k-Leitlinie) oder Alemtuzumab (Lemtrada®), Natalizumab (Tysabri®) oder Ocrelizumab in Ocrevus® (Wirksamkeitskategorie 3 der S2k-Leitlinie) erhalten.
Zur Erinnerung: DMT in drei Wirksamkeitskategorien
Seit Aktualisierung der MS-Leitlinie 2021 sind die verlaufsmodifizierenden Arzneimittel (DMT: Disease modifying Therapies) anhand ihrer Schubreduktion aus den Zulassungsstudien in drei Wirksamkeitskategorien unterteilt.
Allerdings greift diese Einteilung nur für schubförmige Multiple Sklerose. Zur Behandlung der primär progredienten MS, PPMS, ist derzeit ausschließlich Ocrelizumab zugelassen.
Welcher Patient profitiert von welchem Arzneimittel am besten?
Hilfreich wäre aber doch, könnte man im Blut der MS-Patienten bestimmen und voraussagen, ob die Erkrankung eher moderat oder hochaktiv verläuft, um direkt das passende Arzneimittel für eine möglichst effiziente Therapie zu finden. Ist mit Serum Neurofilament Light Chain (sNfL) ein solcher Biomarker gefunden?
Bereits jetzt dient sNfL als Biomarker für neuronale Schäden bei Menschen mit MS, um die Krankheitsaktivität und auch das Ansprechen der Arzneimittel zu überwachen – allerdings nur auf Gruppenebene. Das bedeutet: In klinischen Studien, in denen zum Beispiel zwei MS-Arzneimittel miteinander verglichen wurden, unterschied sich der sNfL-Spiegel in den Studiengruppen, wenn sich die Arzneimittelwirksamkeiten unterschieden.
sNfL-Referenzdatenbank erstellt
Was bislang fehlte, waren jedoch Referenzwerte, die auch für den einzelnen Patienten eine Prognose zulassen und dabei seine individuellen physiologischen Faktoren, sein Alter, Body-Mass-Index (BMI) oder eventuelle Begleiterkrankungen berücksichtigen.
Eine solche Referenzdatenbank haben nun Wissenschaftler um Pascal Benkert (Neurologische Klinik und Poliklinik, MS- und Forschungszentrum für klinische Neuroimmunologie und Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Basel) erstellt. Dabei analysierten sie mehrere Kohorten, neben an MS erkrankten Menschen war auch eine Gruppe gesunder Menschen dabei. Aus den Daten der gesunden Menschen konnten die Wissenschaftler ableiten, wie sich deren sNfL mit Alter und BMI verändert, und den sNfL-Anstieg um diese physiologischen Faktoren korrigieren.
sNfL steigt mit Alter an
Was die Wissenschaftler anhand der 10.133 Blutproben von 5.390 Personen beobachteten, war, dass in der gesunden Kontrollgruppe die sNfL-Konzentration mit dem Alter exponentiell stieg. Vor allem nach dem 50. Lebensjahr sei der Anstieg „steiler“ verlaufen, schreiben die Studienautoren, die ihre Arbeit im März 2022 im Fachjournal „The Lancet Neurology“(„Serum neurofilament light chain for individual prognostication of disease activity in people with multiple sclerosis: a retrospective modelling and validation study“) veröffentlichten.
Aus diesen Daten erstellten die Wissenschaftler statistische Kenngrößen (Perzentile und Z-Scores), deren Aussagekraft sie sodann an in zwei unabhängigen MS-Kohorten (eine Kohorte in der Schweiz und eine Validierungskohorte aus dem schwedischen MS-Register) prüften, mit der Frage: Können diese angepassten Referenzwerte das Risiko für eine künftige Krankheitsaktivität so wie auf Gruppenebene auch für einzelne MS-Patienten voraussagen?
Antikörpertherapie senkt sNfL-Z-Scores auf Referenzniveau von Gesunden
Sie nutzten dafür 7.769 Proben von 1.313 Personen mit MS: Bei Patienten aus der Schweizer MS-Kohorte (SMSC) konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die normierten sNfL-Werte auf ein allmählich erhöhtes Risiko für zukünftige akute (z. B. Rückfälle und Läsionsbildung) und chronische Krankheitsaktivität (Verschlechterung der Behinderung) hinwiesen.
Ein sNfL-Z-Score über 1,5 sei mit einem erhöhten Risiko für eine künftige Krankheitsaktivität bei allen MS-Patienten verbunden – auch bei Patienten, die als stabil (ohne Anzeichen von Krankheitsaktivität) galten.
Eine longitudinale Auswertung der sNFL-Werte (d. h. man erfasst die sNfL-Werte immer wieder im Lauf der Zeit und beobachtet deren Verlauf) ergab, dass bei MS-Patienten unter monoklonalen Antikörpern (Alemtuzumab, Natalizumab, Ocrelizumab und Rituximab [off-label]) die sNFL-Z-Score-Werte auf das Niveau der gesunden Kontrollgruppe sanken.
In geringerem Maß konnten die Wissenschaftler diesen Effekt auch bei den oralen Therapien (Dimethylfumarat, Fingolimod, Siponimod und Teriflunomid) beobachten, während unter Interferon und Glatirameracetat die sNfL-Z-Scores über die Zeit erhöht blieben.
Diese Erkenntnisse konnten laut den Wissenschaftlern durch eine Validierungskohorte (n = 4.341) aus dem schwedischen Multiple-Sklerose-Register „vollständig bestätigt“ werden. Man könne somit anhand der sNfL-Perzentilen und -Z-Scores einzelne MS-Patienten erkennen, die „ein Risiko für einen nachteiligen Krankheitsverlauf und ein suboptimales Ansprechen auf die Therapie“ haben.
sNfL könnte Identifizierung von Risikopatienten ermöglichen
Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) fasst die Ergebnisse zusammen: „Die Studie konnte zeigen, dass die Bestimmung des ,normierten‘ sNfL die Identifizierung einzelner Personen mit Multipler Sklerose, bei denen ein Risiko für weitere Krankheitsaktivität besteht, ermöglichen kann. Insbesondere die longitudinale sNfL-Bestimmung unter Therapie kann auch als ein Baustein zur Evaluation des Therapieansprechens genutzt werden.“
Die DMSG sieht zudem die Option, dass sNfL künftig in Studien eine größere Rolle spielen könnte, um die Wirksamkeit verschiedener Arzneimittel besser miteinander zu vergleichen.