Was ist eigentlich das Münchhausen-Syndrom?
Der Namensgeber des Münchhausen-Syndroms wurde als „Lügenbaron“ bekannt: Hieronymus C. F. Freiherr von Münchhausen (1720–1797) konnte fabelhafte Geschichten erfinden und damit seine Zuhörer fesseln. Auch Menschen mit Münchhausen-Syndrom erzählen ausgeklügelte Lügengeschichten, auf die ihre Adressaten zunächst gehörig hereinfallen. Bei den Belogenen handelt es sich in der Regel um ärztliches und pflegerisches Personal, häufig als Erstes in den Notaufnahmen von Krankenhäusern.
Die Bezeichnung „Münchhausen-Syndrom“ prägte im Jahr 1951 der britische Arzt Sir Richard Asher.
Wie Münchhausen: Lügengeschichten über Erkrankungen
Menschen mit Münchhausen-Syndrom fügen sich im Geheimen durch selbstverletzendes Verhalten massiven gesundheitlichen Schaden zu. Dann stellen sie sich mit den selbst herbeigeführten Symptomen zumeist in Kliniken vor. Dabei machen sie alle möglichen falschen Angaben. Sie schildern ihre angebliche Krankheit glaubwürdig und detailliert, meist medizinisch kompetent.
Ihr einziges Ziel bei dieser ganzen Inszenierung: Sie wollen Aufmerksamkeit und ärztliche Zuwendung. Es geht ihnen also im Gegensatz zu Simulanten nicht etwa darum, in betrügerischer Weise an Versicherungsgelder zu kommen oder vorzeitig berentet zu werden.
Betroffene fügen sich selbst massive Schädigungen zu
Das selbstverletzende Verhalten kann sehr brutal ausfallen. So fügen sich manche schwere Verletzungen zu, applizieren Säure oder injizieren fäkale Stoffe. Häufig werden Substanzen eingenommen (z. B. Insulin oder Antikoagulanzien), um ein auffälliges Laborergebnis oder Symptom hervorzurufen. Es werden Fiebererscheinungen oder Krämpfe induziert. Je dramatischer die Selbstverletzungen sind, desto größer ist die Aussicht auf intensive medizinische Versorgung.
Begierig auf medizinische Versorgung
Menschen mit Münchhausen-Syndrom scheuen keine Behandlungsinterventionen. Im Gegenteil: Sie zeigen sich motiviert und vermitteln den Eindruck, alle Maßnahmen in Kauf nehmen zu wollen, um gesund zu werden. So unterziehen sie sich bereitwillig zahlreichen diagnostischen und therapeutischen Eingriffen. Das gilt sogar für Maßnahmen, die kompliziert, unangenehm oder gefährlich sind. Teilweise werden selbst massive Eingriffe, die bleibende Schäden hinterlassen, provoziert. Das können im Extremfall Amputationen von Gliedmaßen oder das Entfernen von Organen sein.
Oft haben Münchhausen-Patienten lange Zeit Erfolg mit ihren Täuschungsmanövern und beanspruchen das Gesundheitssystem in großem Stil. Kommt man ihnen doch irgendwann auf die Schliche, scheuen sie die Konfrontation. Sie brechen den Arztkontakt abrupt ab und suchen einen anderen Arzt oder eine andere Klinik auf. Dort präsentieren sie erneut ihre manipulierten Symptome und Lügengeschichten, um weiterhin medizinische Fürsorge zu bekommen. Das Münchhausen-Syndrom wird deshalb oft nicht – oder erst spät – erkannt.
Dahinter steckt eine psychische Erkrankung
Das selbstschädigende Vorgehen und die damit herbeigeführten medizinischen Eingriffe führen mit der Zeit meist zu realen gesundheitlichen Einschränkungen. Menschen mit Münchhausen-Syndrom befinden sich im Spätstadium oft in einem sehr schlechten Allgemeinzustand. Für Außenstehende ist das Münchhausen-Syndrom daher umso unbegreiflicher. Doch hinter den vorgetäuschten Symptomen verbirgt sich tatsächlich eine Krankheit – allerdings eine seelische.
Das Münchhausen-Syndrom wird als psychische Erkrankung betrachtet. Klassifiziert wird es als Unterform der sogenannten artifiziellen Störungen – also der künstlich erzeugten oder vorgetäuschten Krankheitssymptome.
Man geht davon aus, dass die Betroffenen in ihrer Jugend traumatisiert und vernachlässigt wurden. Die früheren Misshandlungen finden sozusagen in der heimlichen Selbstverletzung ihre Fortsetzung. Die Patienten haben damals offenbar erst durch ärztliche Behandlung oder Krankenhauseinweisung emotionale Nähe und Zuwendung erfahren. Durch ihre jetzigen Selbstverletzungen führen sie solche Situationen also erneut herbei. Erkannte Münchhausen-Patienten müssen deshalb psychotherapeutisch behandelt werden.
Noch verstörender: Stellvertreter-Münchhausen-Syndrom
Eine besonders verstörende Sonderform des Münchhausen-Syndroms ist das Stellvertreter-Münchhausen-Syndrom (Münchhausen-by-proxy-Syndrom). Hierbei fügt eine Person einem Schutzbefohlenen Schaden zu.
In den allermeisten Fällen handelt es sich um Mütter, die ihre Kinder heimlich verletzen. Mit glaubhaft vorgetäuschter Besorgnis stellen sie die Opfer dann beim Arzt vor. Die Mütter erscheinen dabei als besonders fürsorglich. Mit großer Hingabe werden die Kinder dann umsorgt und gepflegt. Diese tragen aber oft schwere psychische und bleibende körperliche Schäden davon oder sterben sogar an den zugefügten Verletzungen.
Experten schätzen, dass 1,5 von 100.000 Kindern im ersten Lebensjahr vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom betroffen sind. Bei älteren Kindern könnten es 0,5 von 100.000 sein. Es wird jedoch von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen.Quellen: Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie 3/2016; Persönlichkeitsstörungen Theorie und Therapie 2/2011; Pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung, 2013; M.A. Wirtz: Dorsch – Lexikon der Psychologie, 18. Aufl., Hogrefe Verlag; PTAheute 3/2022
Münchhausen-Syndrom in Kürze
- Psychische Störung (sog. artifizielle Störung), bei der die Betroffenen durch heimlich herbeigeführte Selbstschädigungen meist plausibel und dramatisch ein Krankheitsbild vortäuschen.
- Mit dem Täuschungsverhalten wollen die Betroffenen Zuwendung und intensive ärztliche Betreuung provozieren.
- Münchhausen-Patienten akzeptieren bereitwillig bis freudig aufwändige diagnostische Maßnahmen und gravierende medizinische Eingriffe.
- Bei Gefahr der Aufdeckung wird der Arzt gewechselt.
- Die Vorgeschichte zeigt häufig schwere Misshandlungen und Vernachlässigungen in der Kindheit. Zuwendung fand nur bei schwerer Krankheit statt.
- Psychotherapeutische Behandlung erforderlich.
- Eine gravierende Sonderform ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, bei dem eine pflegende Person (meist Mutter) einem Schutzbefohlenen (meist dem eigenen Kind) heimlich Schaden zufügt.