Das Cortison-Wunder
Ein unglaublicher Behandlungserfolg
Es geschah im September 1948 an der amerikanischen Mayo-Klinik (Rochester, Minnesota): Die Patientin Mrs. G. litt an einer schweren Form der chronischen Polyarthritis. Sie war bettlägerig. Die schmerzhaften Entzündungen hatten sie komplett bewegungsunfähig gemacht. Keine therapeutische Maßnahme schlug an. Da entschlossen sich die Ärzte zu einem außergewöhnlichen Schritt: Sie setzten eine Substanz ein, die erst kurz zuvor erstmals synthetisiert worden war – Cortison. Mrs. G. bekam von dieser Substanz zweimal täglich jeweils 50 mg injiziert. Daraufhin passierte etwas Unglaubliches: Schon nach zwei Tagen Therapie konnte sich die Patientin im Bett bewegen. Am dritten Tag hatte sie keine Schmerzen mehr und nach einer Woche konnte sie die Klinik verlassen.
Weltweite Euphorie
Dieses „Wunder“ ließ die Welt aufhorchen. Die neue Substanz wurde bald nicht nur bei Rheuma, sondern auch bei anderen entzündlichen Erkrankungen wie Asthma oder Hauterkrankungen eingesetzt. Im Jahr 1950 erhielten die „Väter“ des Cortisons – die amerikanischen Wissenschaftler Edward C. Kendall und Philip S. Hench sowie der Schweizer Tadeusz Reichstein – für ihre Verdienste den Medizin-Nobelpreis.
Die Ernüchterung folgte
Die Cortison-Therapie wurde als Meilenstein der Medizin gefeiert – ähnlich wie einst die Entdeckung von Penicillin. Doch auf die Euphorie folgte rasch Ernüchterung. So stellte man fest, dass Cortison nur symptomatisch wirkte. Es führte zu keiner Heilung und nach Absetzen kam es zum Rückfall. Zunehmend erkannte man auch die erheblichen Nebenwirkungen: Anstieg von Blutdruck und Blutzuckerspiegel, Veränderung der Fettverteilung, Muskelschwund, Osteoporose, Infektanfälligkeit und vieles mehr. Nach dem „Cortison-Wunder“ verbreitete sich „Cortison-Angst“. Man sprach von „Teufelszeug“.
Therapeutische Weiterentwicklungen
Heute wird statt Cortison eine Vielzahl ähnlicher Glucocorticoide mit verbessertem Wirkungs- und Nebenwirkungsspektrum eingesetzt. Dazu gehören unter anderem die schon lange gebräuchlichen Substanzen Betamethason, Dexamethason, Prednisolon und Triamcinolon. Die Therapie erfolgt inzwischen mit einer möglichst geringen Dosis und über einen möglichst kurzen Zeitraum.
Lebensnotwendige körpereigene Substanzen
Die synthetischen Corticoide sind chemische Abwandlungen der körpereigenen Corticoide. Diese werden von der Nebennierenrinde gebildet (lat. cortex = Rinde). Das physiologisch wichtigste körpereigene Glucocorticoid ist Hydrocortison = Cortisol. Es entsteht aus Cholesterol und ist für den Organismus lebensnotwendig. Als „Stresshormon“ wird Cortisol in Belastungssituationen vermehrt ausgeschüttet. Es sorgt vor allem für die Energiebereitstellung, indem es den Abbau von Eiweiß und Fett verstärkt und den Blutzuckerspiegel erhöht. Bei vermehrter Sekretion wirkt Cortisol zudem entzündungshemmend und immunsuppressiv. Quellen: T. Herdegen: Kurzlehrbuch Pharmakologie und Toxikologie, Thieme 2014; Deutsche Diabetes Stiftung; Pharmazie in unserer Zeit Nr. 4/2003