Wie Darmbakterien das Immunsystem regulieren
Eine immense Zahl von Bakterien – man geht von 10 Billionen aus – besiedelt den menschlichen Dickdarm. Die meisten Vertreter dieses Darmmikrobioms sind für ihren Wirt nützlich, etwa weil sie ihn mit essenziellen Vitaminen versorgen, bei der Kohlenhydratverdauung helfen oder schädliche Bakterien fernhalten.
Doch wie kommt es eigentlich, dass unser Immunsystem diese Fremdorganismen nicht bekämpft? Das liegt daran, dass Darmbewohner und Immunsystem des Wirts ständig miteinander kommunizieren.
Wie dies geschieht, hat der amerikanische Arzt und Immunologe Prof. Dr. Dennis L. Kasper in jahrzehntelanger Forschung herausgefunden. Für seine Leistung erhält der 80-Jährige einen wichtigen Medizinpreis: den Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis 2024.
So entgehen Darmbewohner der Immunabwehr
Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse gewann Dennis Kasper am Bakterium Bacteroides fragilis. Diese Mikrobe besiedelt unseren Darm besonders früh nach unserer Geburt und in großer Zahl. Gelangt sie etwa bei Verletzungen in den normalerweise sterilen Bauchraum, führt sie zu gefährlichen Infektionen. Doch innerhalb des Darms ist Bacteroides fragilis kein Krankheitserreger.
Das Bakterium hat eine besondere Eigenschaft: Es kann seine schützende Bakterienkapsel mit acht verschiedenen Polysacchariden ausstatten. Daher umhüllt sich Bacteroides fragilis mit immer neuen Mustern von Polysacchariden. Diese ständig wechselnden Gewänder stellen ein Tarnkleid vor dem Immunsystem des Wirts dar. Der Fremdorganismus im Darm wird daher toleriert.
Ein Bakterien-Polysaccharid hält Immunzellen im Gleichgewicht
Aber inwiefern ist Bacteroides fragilis von Nutzen für seinen Wirt? Prof. Kasper entdeckte, dass es dabei auf ein ganz bestimmtes Molekül ankommt, und zwar auf eines der acht Kapselpolysaccharide.
Der Wissenschaftler bezeichnete es als PSA (Polysaccharid A). Es wird im Immunsystem des Wirts von den dendritischen Zellen – den „Wächterzellen“ des Immunsystems – aufgenommen, die es auf ihrer Oberfläche präsentieren. Dies stimuliert das Immunsystem beständig zur Produktion verschiedener Arten von T-Zellen und sorgt für deren Gleichgewicht.
Außerdem kann PSA regulatorische T-Zellen dazu anregen, Interleukin-10 (IL-10) zu produzieren. IL-10 wiederum ist ein wichtiger antientzündlicher Botenstoff. Sein Mangel kann die Entstehung von Krankheiten wie Asthma, Colitis ulcerosa und Multiple Sklerose begünstigen.
Das von Bacteroides fragilis gebildete PSA ist demnach ein wichtiges immunologisches Signalmolekül. Man nimmt an, dass auch andere Darmbakterien PSA-ähnliche Moleküle produzieren. So wird einmal mehr verständlich, warum ein gesundes Darmmikrobiom so bedeutsam für die menschliche Gesundheit ist.
Ein bakterielles Lipid schützt Babys vor entzündlichen Erkrankungen
Der Immunologe Dennis Kasper entdeckte neben PSA in Bacteroides fragilis noch ein weiteres immunologisches Signalmolekül: das Glykosphingolipid GSL-Bf717 in der Bakterienmembran. Dieses Lipid greift im Gegensatz zum PSA nicht lebenslang, sondern nur für einige Wochen und Monate nach unserer Geburt ins Immunsystem ein.
In diesem Zeitraum hemmt es die übermäßige Vermehrung natürlicher Killer-T-Zellen. Damit verhindert das Bakterienlipid, dass das Immunsystem des Babys überschießende Entzündungsreaktionen und Angriffe auf den eigenen Körper veranlasst.
In Experimenten mit Mäusen konnte gezeigt werden, dass das bakterielle Sphingolipid das Risiko für Autoimmunkrankheiten senkt. Wissenschaftler weisen deshalb darauf hin, wie wichtig es ist, einen Antibiotikaeinsatz bei Neugeborenen sorgfältig abzuwägen.
Hoffnung auf neue Therapieansätze gegen Autoimmunerkrankungen
Die Forschungsergebnisse von Dennis Kasper zu den Kommunikationswegen, über die Bakterien das Immunsystem erziehen, gelten als wegweisend. Sie zeigen zum einen der Präventivmedizin neue Möglichkeiten auf. Andererseits rücken sie Angriffspunkte und Strategien zur Entwicklung medikamentöser Therapien ins Blickfeld. So hofft man zum Beispiel, eine Autoimmunkrankheit wie die Multiple Sklerose in Zukunft effektiver behandeln zu können. Quellen: Paul Ehrlich-Stiftung; Goethe-Universität Frankfurt am Main