Was ist eigentlich das Stendhal-Syndrom?
Zur Urlaubszeit zieht es kulturinteressierte Touristen in Scharen in die Kunstmetropolen. An vorderster Stelle stehen italienische Städte wie Rom und Florenz. Jede Menge prachtvoller Bauwerke, imposanter Standbilder und berühmter Gemälde ziehen die Besucher in ihren Bann.
Empfindsame Gemüter können bei der Betrachtung von so viel bedeutsamer Kunst und erhabener Ästhetik derart ergriffen sein, dass sie massive psychosomatische Reaktionen entwickeln – von Wahrnehmungsstörungen bis zu Panikattacken.
Psychosomatische Reaktion durch kulturelle Reizüberflutung
So erging es im Jahr 1817 dem französischen Schriftsteller Marie-Henri Beyle, bekannt unter dem Pseudonym Stendhal, bei einem Aufenthalt in Florenz. Als er die monumentale Kirche Santa Croce besichtigte, fühlte er sich wie in einem Wahn.
Stendhal war nicht nur übermäßig berührt von den berühmten Fresken, sondern auch davon, dass er den Grabmälern so bedeutender Männer wie Michelangelo, Machiavelli und Galileo gegenüberstand. Er schrieb darüber:
„Ich befand mich bei dem Gedanken in Florenz zu sein und durch die Nähe der großen Männer in einer Art Ekstase. … Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen …; ich war bis zum äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“
Kunstverzückung erzeugt Wahnzustände
Wissenschaftlich beschrieben wurde dieses nach Stendhal benannte Syndrom – auch als „florentinische Krankheit“ bezeichnet – von der italienischen Psychologin Graziella Magherini (geb. 1927).
Durch ihre Tätigkeit in einem Krankenhaus in Florenz hatte sie immer wieder Touristen zu behandeln, die ähnliche Symptome wie einst Stendhal zeigten: Die Besucher waren von der Fülle und Bedeutung der Florentiner Kunstschätze derart überfordert, dass sie kollapsartige Zustände erlitten. Auch einzelne überragende Sehenswürdigkeiten wie etwa der „David“ von Michelangelo konnten ekstatische Zustände auslösen.
Drei Varianten des Stendhal-Syndroms
In ihrem Buch „Das Stendhal-Syndrom“ von 1989 beschreibt Magherini typische Krankheitsfälle. Dabei unterscheidet sie drei Varianten:
- Bewusstseinsstörungen mit Störungen des Denkens und der Wahrnehmung, Wahnvorstellungen, Schuldgefühle, Halluzinationen
- Affektive Störungen: depressive Zustände mit Weinen und Heimweh oder Euphorie und Selbstüberschätzung
- Panikattacken mit Herzrasen, Schwindel, Ohnmachtsanfällen
Betroffene meist jung und unverheiratet
Die meisten der beschriebenen Touristen waren zwischen 26 und 40 Jahre alt und ledig. Mehr als die Hälfte der Patienten hatte sich zuvor schon einmal in psychologischer Behandlung befunden. Die Existenz des Stendhal-Syndroms wird daher von einigen Wissenschaftlern angezweifelt.
In der Regel bessert sich die beschriebene Symptomatik übrigens von selbst wieder. Nur in schwereren Fällen ist die Gabe von Psychopharmaka erforderlich. Quellen: H.-J. Möller, G. Laux, H.-P. Kapfhammer: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Springer 2017; Praxis Vita, 29.01.2020; Deutsches Ärzteblatt, 11. Juni 1987
Stendhal-Syndrom in Kürze
- Spezielle psychische Störung, auch als „florentinische Krankheit“ bezeichnet; benannt nach dem französischen Schriftsteller Stendhal (bürgerl. Name: Marie-Henri Beyle, 1783–1842).
- Ursache: kulturelle Reizüberflutung; Überforderung einer Person angesichts einer Fülle bedeutsamer Kunstschätze von meist überwältigender Schönheit, vor allem in der italienischen Stadt Florenz
- Äußert sich ähnlich einer Psychose, zum Beispiel in Form von Bewusstseinsstörungen, Panikattacken, depressiven oder manischen Zuständen.
- Symptomatik klingt meist von selbst ab, evtl. Einsatz von Psychopharmaka.
- Syndrom wird wissenschaftlich kontrovers diskutiert.