Raynaud-Syndrom und Migräne: Kalte Finger unter Migräne-Antikörpern?
Das Raynaud-Syndrom ist ein weit verbreitetes Phänomen. Bei dieser Form der Durchblutungsstörung ziehen sich die kleinen Gefäße der Finger plötzlich zusammen – die Blutzufuhr nimmt ab und die Finger werden weiß und kalt. Teilweise ist der Sauerstoffmangel so ausgeprägt, dass die Betroffenen bläuliche Finger bekommen (Zyanose). Nach einer gewissen Zeit löst sich der Gefäßkrampf wieder und es strömt wieder mehr Blut in die Finger.
Derartige Symptome wurden in einigen Fällen auch von Patienten die Migräne-Antikörper erhielten, berichtet. Können die speziell zur Prophylaxe von Migräneanfällen entwickelten Antikörper ein Raynaud-Syndrom verschlechtern oder es gar neu auslösen?
Zur Erinnerung: So wirken Migräne-Antikörper
Erenumab, Eptinezumab, Fremanezumab und Galcanezumab greifen ins CGRP-System ein. Calcitonin Gene-Related Peptide ist ein entzündungsfördernder Botenstoff, dem in der Krankheitsentstehung von Migräne eine wichtige Bedeutung zukommt.
CGRP wirkt stark gefäßerweiternd und überträgt, vereinfacht gesagt, Schmerzsignale. Durch Blockade von CGRP (Eptinezumab, Fremanezumab, Galcanezumab) oder dessen Rezeptor (Erenumab) soll die Migräne-Attacke gestoppt und weiteren Anfällen vorgebeugt werden.
Die Antikörper wirken sowohl bei episodischer als auch chronischer Migräne (Kopfschmerzen an 15 oder mehr Tagen im Monat, von denen mindestens acht Tage die Kriterien einer Migräneattacke erfüllen).
Raynaud-Syndrom: keine offizielle Nebenwirkung von Migräne-Antikörpern
Als Nebenwirkung listen die Beipackzettel und Fachinformationen zu Erenumab (Aimovig®), Fremanezumab (Ajovy®) und Galcanezumab (Emgality®) ein Raynaud-Syndrom nicht auf.
Schaut man jedoch in die europäische Datenbank zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen, Eudravigilance, ist das Auftreten eines Raynaud-Syndroms nach Anwendung von Migräne-Antikörpern nicht völlig unbekannt.
Europaweit ein paar Fälle bekannt
Für Erenumab, den ersten zugelassenen CGRP-Rezeptor-Antikörper (EU-zugelassen seit Juli 2018), führt Eudravigilance bislang zwölf Fälle auf. Unter Galcanezumab (EU-zugelassen seit November 2018) kam es zu acht Fällen, für Fremanezumab (EU-zugelassen seit März 2019) sind insgesamt sechs Fälle beschrieben. Teilweise hat sich das Raynaud-Syndrom bei den Betroffenen wieder zurückgebildet, teilweise nicht.
Kalte Finger bis zur Amputation
Nicht nur in Eudravigilance finden sich Hinweise auf diese mögliche Nebenwirkung: Im April 2021 veröffentlichten Wissenschaftler eine Studie in „JAMA Network Open“(„Evaluation of the Safety of Calcitonin Gene-Related Peptide Antagonists for Migraine Treatment Among Adults With Raynaud Phenomenon“) , in der sie die Sicherheit der CGRP-Antikörper (Fremanezumab, Galcanezumab) und CGRP-Rezeptor-Antikörper (Erenumab) bei Migränepatienten mit Raynaud-Syndrom untersucht hatten.
Bei neun von 160 Migränepatienten (5,3 Prozent) kam es zu mikrovaskulären Problemen. Diese reichten von einer Verschlechterung eines Raynaud-Syndroms und Nekrosen (Absterben von Zellen) bis zur Amputation eines Fingers (bei einer Patientin). Bei der Patientin, der der Finger amputiert wurde, war zuvor kein Raynaud-Syndrom bekannt gewesen. Die Fälle traten unter allen zum damaligen Zeitpunkt zugelassenen und eingesetzten Migräne-Antikörpern auf.
Die Wissenschaftler erklärten, dass schwere mikrovaskuläre Komplikationen unter Migräne-Antikörpern zwar selten seien, „doch ist bei der Verwendung dieser Wirkstoffe bei Patienten mit Raynaud-Syndrom Vorsicht geboten“.
Daneben beschäftigte sich 2019 eine Studie im Fachjournal „Headache“(„Raynaud's Phenomenon Associated With Calcitonin Gene-Related Peptide Monoclonal Antibody Antagonists”) mit der möglichen Nebenwirkung der Migräne-Antikörper auf das Gefäßsystem: Bei drei Migränepatienten verschlimmerte sich ein Raynaud-Syndrom unter den Migräne-Antikörpern (Fremanezumab und Galcanezumab) oder es trat ganz neu auf (Erenumab).
Migräne und Raynaud-Syndrom treten häufig zusammen auf
Dieser Hinweis ist durchaus wichtig, denn Raynaud-Syndrom und Migräne treten häufig zusammen auf. Laut einer Studie aus dem Jahr 1992 leiden 61 Prozent der Menschen mit einem Raynaud-Syndrom gleichzeitig an Migräne, während Migräne bei Menschen ohne Raynaud-Syndrom nur bei 23 Prozent diagnostiziert wurde. Die Arbeit wurde im Fachjournal „Annals of Internal Medicine“(„Increased Prevalence of Migraine and Chest Pain in Patients with Primary Raynaud Disease“) veröffentlicht.
Bereits 1984 fand man diesen Zusammenhang, was eine Studie im „JAMA Network“(„Prevalence of Raynaud's Phenomenon in Patients With Migraine“) zeigt: 26 Prozent der Migränepatienten litten gleichzeitig an einem Raynaud-Syndrom, bei Nicht-Migränikern waren es 6 Prozent.
CGRP-Antikörper ziehen Gefäße zusammen – auch in den Fingern
Dass Migräne-Antikörper möglicherweise auf die Gefäße in den Händen wirken, deutete sich bereits in den Zulassungsstudien ab. Das „Arznei-Telegramm“ hat recherchiert und fand elf Patienten, deren Raynaud-Syndrom sich unter Erenumab in der zulassungsrelevanten Studie verschlechterte.
Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) sichtete diese Unterlagen vor Erteilung der Zulassung damals und hielt einen Zusammenhang zwischen Migräne-Antikörpern und dem Raynaud-Syndrom für „möglich“ und aufgrund des Wirkmechanismus der Antikörper auch für „plausibel“.
So wirkt das Neuropeptid CGRP normalerweise gefäßerweiternd. Blockiert man CGRP jedoch durch Migräne-Antikörper, ziehen sich die Gefäße zusammen und die Durchblutung nimmt ab – wohl auch in den Fingern.
Verabreicht man hingegen Raynaud-Patienten CGRP, dann bessern sich ihre Beschwerden. Das zeigt eine 2014 im Fachjournal „Physiological Reviews“ veröffentlichte Arbeit. Die FDA stufte die mögliche Nebenwirkung damals als „besorgniserregend“ ein.
Bereits in Zulassungsstudien beobachtet
Dieses Phänomen ist jedoch kein Erenumab-spezifisches. Auch unter Galcanezumab verschlechterte sich bereits in den zulassungsrelevanten Studien ein Raynaud-Syndrom unter der Antikörperbehandlung.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wollte damals jedoch nicht von einem ursächlichen Zusammenhang sprechen, da sich die Beschwerden – trotz Fortsetzen der Behandlung – wieder besserten. Bei Fremanezumab erkannte die EMA ein erhöhtes Auftreten von vaskulären Ereignissen, insgesamt stufte sie dieses jedoch als „eher klein“ ein.
Vor Antikörpertherapie ein Raynaud-Syndrom abklären
Was ist nun die Konsequenz aus diesen Beobachtungen? Es gibt Hinweise, dass Migräne-Antikörper ein Raynaud-Syndrom verschlimmern oder neu auftreten lassen, und Migränepatienten scheinen von vornherein anfälliger für ein Raynaud-Syndrom zu sein.
Die Empfehlung des „Arznei-Telegramm“: „Vor Anwendung der drei Reserveprophylaktika sollten Patienten über das Vorliegen eines Raynaud-Syndroms befragt und über die Möglichkeit einer Erstmanifestation bzw. Verstärkung des Phänomens informiert werden.“