Pop-Up-Apotheke bei Tönnies
Die zahlreichen SARS-CoV-2-Infektionen beim Fleischfabrikanten Tönnies halten den Kreis Gütersloh in Atem – aber auch in Berlin schaut man besorgt auf das Geschehen. Es handele sich um einen „massiven Ausbruch“, der sehr ernst zu nehmen sei, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am heutigen Montag in Berlin. Für die Region bestehe ein hohes Infektionsrisiko. Es sei nun alles zu tun, um diesen Ausbruch einzudämmen. Über die konkreten Maßnahmen zur Eindämmung entscheide aber das Land Nordrhein-Westfalen, betonte die Bundesregierung und verwies auf schon örtlich verhängte Schließungen von Schulen und Kitas und Anordnungen von Quarantäne in den umliegenden Kreisen.
Laut Bundesgesundheitsministerium sind seit vergangenem Samstag drei Experten des Robert Koch-Instituts (RKI) vor Ort. Im Landkreis helfen demnach zudem 15 RKI-Mitarbeiter beim Nachverfolgen von Kontakten, im Nachbarlandkreis Warendorf drei Mitarbeiter. Laut Verteidigungsministerium unterstützen zudem 39 Mitarbeiter der Bundeswehr die Corona-Reihentests, auch mit eigenen Testteams.
Gütersloher Apotheker sorgen für pragmatische Lösung
Auch Apotheker vor Ort seien aktiv geworden, wie die Apothekerkammer Westfalen-Lippe (AKWL) mitteilt. „Bei so vielen Infizierten, die meist weder Deutsch noch Englisch sprechen und die extrem verunsichert sind, haben wir eine ungewöhnliche und pragmatische Lösung gewählt“, erklärt die Gütersloher Apothekerin Claudia Scherrer, AKWL-Kreisvertrauensapothekerin und Sprecherin der Apotheker*innen im Kreis Gütersloh. Im engen Austausch mit Kammer, Landkreis und Bezirksregierung hat sie dafür gesorgt, dass am vergangenen Wochenende bei Tönnies beschäftige Corona-Patienten noch auf dem Firmengelände mit den dort verordneten Arzneimitteln versorgt werden. Auf dem Gelände befindet sich eines der aktuell zwei Behandlungszentren im Kreis Gütersloh. „Außergewöhnliche Situationen führen manchmal zu außergewöhnlichen Maßnahmen“, so Scherrer, „und in dieser Situation war eine Pop-Up-Apotheke unter freiem Himmel mit nur fünf Arzneimitteln eine äußerst ungewöhnliche, aber in höchstem Maße realitätsnahe Lösung.“
Versorgt wurden die Patienten mit codeinhaltigen Hustenmitteln, dem Hustenlöser Ambroxol, einem Antibiotikum (Amoxicillin) und den Schmerzmitteln Ibuprofen und Paracetamol. Ausgegeben wurden diese außer von Claudia Scherrer (Nord-Apotheke Gütersloh) auch von Susanne Gehring (Bahnhof-Apotheke Gütersloh) und Dr. Olaf Elsner (Storchen-Apotheke Gütersloh). „Die Beratung erfolgte mit Unterstützung der Dolmetscher, welche aus dem Deutschen ins Rumänische und Bulgarische übersetzten“, so Scherrer. „Das war eine enorme Hilfe.“
Eine so schnelle Versorgung kann nur die Apotheke vor Ort
Nach der „Hauruck-Aktion“ am vergangenen Wochenende ist Scherrer froh, diesen pragmatischen Weg gewählt und auch bei den zuständigen Behörden durchgesetzt zu haben: „Normalerweise widerspricht die Abgabe von Arzneimitteln außerhalb einer Apotheke ungefähr jeder gesetzlichen Grundlage. Aber gerade die Sprachbarriere und der Infektionsschutz der Bevölkerung im Kreis und darüber hinaus ließen keine andere Lösung zu.“
Auch am heutigen Montag ist die Apothekerin noch vor Ort im Behandlungszentrum. Ab dem morgigen Dienstag soll die Versorgung dezentral über einen Botendienst organisiert werden. Auch hier geht Pragmatismus vor strenger Gesetzestreue: „Dann werden die Rezepte aus der Praxis an eine Apotheke am Wohnort des Patienten gemailt, die Originale später nachgereicht.“ All das, so Scherrer, sei mit den Behörden zwar auf dem kurzen, aber immer noch auf dem Dienstweg abgesprochen. Die Apothekerin ist überzeugt: „Es geht nicht um Guerilla-Aktionen oder ums Geldverdienen, sondern um die schnelle Versorgung der Patienten. Und wer kann das besser und schneller als die Apotheke vor Ort? Der Versandhandel auf jeden Fall nicht!“
Rechtlich befinden sich die Apothekerinnen und Apotheker nicht im gänzlich luftleeren Raum. Die derzeit geltende SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung besagt in ihren Paragrafen 2, dass die zuständigen Behörden im Einzelfall von den Vorschriften des Apothekengesetzes und der Apothekenbetriebsordnung abweichen können. Das Bundesgesundheitsministerium wollte mit der Regelung den Apotheken Flexibilität einräumen und den Behörden vor Ort ermöglichen, Abweichungen von den strengen rechtlichen Vorgaben zu gestatten – schließlich könnten sie die Situation vor Ort am besten einschätzen.