Pay für Performance – Wie funktioniert das?: Neues Erstattungsmodell für MS-Arzneimittel Mavenclad®
Bei aller Freude über neue Therapieoptionen, die Patienten heilen können, ihre Krankheit weniger aggressiv fortschreiten lassen oder ihre Lebenszeit verlängern, bleibt immer auch die Frage: Wie sollen die Krankenkassen diese steigenden Kosten dauerhaft schultern? Mit dem AMNOG (Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz) seit Januar 2011 und der damit einhergehenden Nutzenbewertung neuer Arzneimittel durch den G-BA, sollte Hochpreisern der Pharmaindustrie ein Riegel vorgeschoben werden und sich der Preis eines Arzneimittels am Nutzen für den Patienten orientieren. Seither bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) jedes neu zugelassene Arzneimittel in Deutschland innerhalb der ersten Monate nach Marktzugang und vergleicht dessen Nutzen mit dem Nutzen einer bereits etablierten Therapie zur Behandlung der Erkrankung. Kann der G-BA hier keinen Vorteil erkennen, müssen pharmazeutische Unternehmer und Krankenkassen in Preisverhandlungen treten, um einen für beide Seiten tragbaren Erstattungspreis des Arzneimittels zu finden. Dabei sind die Preisziele des GKV-Spitzenverbandes wohl andere als die der Hersteller.
Pay for Performance: Eine Art Geld-zurück-Garantie
Allerdings schließen Preisverhandlungen auf Basis der Nutzenbewertung eines Arzneimittels auch andere Erstattungsmodelle nicht aus. Pay for Performance ist eine solche innovative Versorgungs- und Erstattungsvariante, bei der der pharmazeutische Hersteller nach Leistung (performance) bezahlt (pay) wird. Das bedeutet: Nur wenn das Arzneimittel wirkt, bekommt der pharmazeutische Unternehmer auch Geld und erstattet die Krankenkasse die Therapiekosten. Verwirklicht hat der Pharmariese Novartis dies beispielsweise bei seinem Krebsarzneimittel KymriahTM mit dem Wirkstoff Tisagenlecleucel-T. In den USA kostet eine Anwendung 475.000 US-Dollar und die staatlichen Versicherungen müssen KymriahTM nur bezahlen, wenn der Krebs ein Monat nach der Behandlung schwindet. Zugelassen ist die CAR-T-Zell-Therapie unter anderem bei ALL (Akut lymphatischer Leukämie). In Europa hat die CAR-T-Zell-Therapie KymriahTM im August dieses Jahres die Zulassung erhalten, allerdings gibt es bislang noch keine Informationen darüber, wie entsprechende Erstattungsmodelle hierzulande gestaltet sein könnten.
Dass derartige Modelle mit Unwägbarkeiten verknüpft sind, ist klar. Was passiert, wenn der Krebs zwar zurückgeht, die Versicherung bezahlt, aber der Krebs dann wiederkehrt? Was, wenn der Patient Kontrolluntersuchungen nicht einhält und somit gar nicht geprüft werden kann, wie der Therapieerfolg ist? Auch ein einfaches Wechseln der Krankenkasse wird vor dem Hintergrund horrender Therapiekosten nicht einfach möglich sein.
Merck willigt zu Pay for Performance bei MS-Arzneimittel Mavenclad® ein
Ein innovatives Versorgungsmodell hat nun auch Merck bei seinem neuen MS-Arzneimittel Mavenclad® mit dem Wirkstoff Cladribin eingeschlagen. Ein Therapiezyklus mit Cladribin umfasst vier Jahre, wobei der MS-Patient nur in den ersten beiden Behandlungsjahren Mavenclad® erhält. Cladribin können MS-Patienten oral, als Tablette, einnehmen. Mavenclad® dosieren die Neurologen entsprechend dem Körpergewicht des Patienten: Ein 60 bis 70 Kilogramm schwerer Patient mit hochaktiver schubförmiger multipler Sklerose benötigt im ersten und zweiten Behandlungsjahr 24 Tabletten, dafür sind die Jahre drei und vier des Mavenclad®-Behandlungszyklus arzneimittelfrei. Eine Packung mit sechs Tabletten kostet 15.693 Euro (Stand Lauer-Taxe Oktober 2018), somit belaufen sich die Mavenclad®-Kosten für den Behandlungszyklus auf rund 63.000 Euro. Heutzutage ist in diesem Preissegment die Speerspitze der teuren Therapeutika noch lange nicht erreicht – siehe KymriahTM. Dennoch möchte Merck wohl neue Versorgungsmodelle mitgestalten und hat mit GWQ ServicePlus AG einen Pay-for-Performance-Vertrag geschlossen. GWQ steht für „Gesellschaft für Wirtschaftlichkeit und Qualität bei Krankenkassen“. Gegründet 2007 von einer Gruppe mittelständischer Betriebskassen (BKKen), übernimmt die GWQ Dienstleistungen in den Bereichen Einkaufs-, Versorgungs-, Finanz- und Informationsmanagement für ihre Mitgliedskrankenkassen.
Wie funktioniert Pay for Performance bei Mavenclad®?
Der Grundgedanke hinter dieser Pay-for-Performance-Vereinbarung orientiert sich am Therapieerfolg: „Der Preis für Mavenclad® bemisst sich konsequent am Therapienutzen für die Patienten“, erklärt Merck hierzu. Denn: Merck hat sich bereit erklärt, wenn Mavenclad® nicht diesen erhofften Therapieerfolg bringt, die „Mehrkosten“ für eine dann erforderliche alternative MS-Therapie zu übernehmen. Somit ist die geschlossene Vereinbarung vielmehr eine „Pay for Non-Performance“, also eine Kostenübernahme bei Therapieversagen. Merck scheint offenbar von der Wirksamkeit seines MS-Therapeutikums überzeugt und rechnet nicht mit unüberschaubaren „Mehrkosten“ durch Ausweichtherapien. Allerdings trifft diese Vereinbarung auch nur MS-Patienten der insgesamt rund 6,5 Millionen Versicherten bei den etwa 40 verschiedenen Betriebs- und Innungskrankenkassen (BKK und IKK), die Mitglieder bei GWQ sind und dem Vertrag beigetreten sind (unter anderem Audi BKK, Bahn BKK, IKK Südwest). Ihr Marktanteil liegt, bezogen auf alle Krankenkassen, bei 10 Prozent. Verträge mit anderen Krankenkassen – TK, AOK oder DAK/Barmer – sind bislang nicht abgeschlossen.
Welche Therapiealternativen gibt es zu Mavenclad®?
Cladribin ist zugelassen für Patienten, die an hochaktiver schubförmiger MS leiden. Müssen diese Patienten auf andere Wirkstoffe ausweichen, kommt therapeutisch auch Lemtrada® (Alemtuzumab), Tysabri® (Natalizumab), Gilenya® (Fingolimod) und seit Januar 2018 auch Ocrevus® (Ocrelizumab) in Frage. Welches Arzneimittel zahlt aber Merck dann? Die Jahrestherapiekosten von Gilenya® liegen bei etwa 22.000 Euro, während eine Therapie mit Ocrevus® rund 31.000 Euro kostet. Macht es einen Unterschied, auf welches MS-Arzneimittel der Arzt umstellt?
Offenbar nicht. Denn Merck und GWQ haben sich auf eine Pauschale geeinigt. Diese Zahlung seitens Merck wird automatisch ausgelöst, sobald eine weitere MS-Therapie innerhalb der vier Jahre Mavenclad®-Therapiezyklus erforderlich wird. Und wer entscheidet dies? Ist eine solche Eskalationstherapie abhängig von der Schubrate? Auch da gibt es wohl keine knallharten klinischen Kriterien. Die Entscheidung trifft der behandelnde Arzt. Er muss nur medizinisch begründen, dass der MS-Patient eine alternative Therapie benötigt und festlegen, welches Arzneimittel der Patient erhalten sollte.
Welchen Vorteil hat Merck durch Pay for Performance?
Warum macht Merck dies? Der Vorteil für die Krankenkassen liegt auf der Hand, sie müssen in jedem Fall nur eine MS-Therapie erstatten. Auch die Ärzte sind auf der sicheren Seite und müssen – wenn sie therapeutisch eskalieren müssen – keinen Regress fürchten. Der Vorteil für Merck scheint zunächst nicht offenbar. Auf Nachfrage der Redaktion sagt ein Sprecher von Merck: „Merck will langfristig die Wirtschaftlichkeit der MS-Therapie sicherstellen“, denn Cladribin habe in Studien bislang gezeigt, dass nach einem vierjährigen Therapiezyklus keine weitere Einnahme erforderlich ist, was Mavenclad® zu einer günstigen MS-Therapiealternative mache. Somit kann es auch für einen pharmazeutischen Unternehmer interessant sein, seinem neuen Arzneimittel mit solchen Verträgen einen Platz im Markt zu sichern.
Wie wirkt Cladribin?
Cladribin ist ein Wirkstoff, der bestimmte Zellen des Immunsystems trifft, und zwar die Lymphozyten. Die Lymphozyten gehören zur großen Gruppe der weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Zu den Lymphozyten wiederum zählen die T-Lymphozyten (zum Beispiel T-Killerzelle CD8+, T-Helferzelle CD4+), die B-Zellen (zum Beispiel Antikörper-sezernierende B-Zelle, B-Gedächtniszelle) und die natürlichen Killerzellen. Cladribin ist – als Tablette – seit 2017 zur Therapie der multiplen Sklerose zugelassen. Allerdings wird Cladribin auch – parenteral als Infusion oder Injektion – zur Therapie der Leukämie (Haarzell-Leukämie) eingesetzt. In Mavenclad® liegt Cladribin zunächst in einer inaktiven Form vor. Damit Cladribin wirken kann, muss es zunächst aktiviert werden – und das geschieht vor allem in den Zellen, die Cladribin hemmen soll, was eine gewisse Selektivität des Wirkstoffes auf die gewünschten Zielzellen (T- und B-Zellen) bedingt. Die Angriffspunkte von aktiviertem Cladribin ist zum einen die Erbinformation der Zelle, die DNA, zum anderen die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle. Über verschiedene Mechanismen führt Cladribin letztendlich zum Zelltod (Apoptose) der Zielzellen.
Was ist multiple Sklerose?
Multiple Sklerose (MS) ist eine neurologische Erkrankung, das bedeutet, sie betrifft das Nervensystem. Patienten, die an MS leiden, weisen dauerhafte (chronische) Entzündungen im Bereich des Zentralnervensystems auf, bei der es – vermittelt durch Immunzellen – zu einer Zerstörung der Myelinscheide der Nervenzellen kommt. Diese sogenannte Demyelinisierung führt zu einer fortschreitenden Behinderung der Patienten, die mit Lähmungen und Spastiken einhergeht. Das Rätsel um die Entstehung der multiplen Sklerose ist nicht vollständig geklärt. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft geht man derzeit davon aus, dass T-Zellen und B-Zellen des Immunsystems eine zentrale Rolle im Entzündungsgeschehen bei MS spielen.
Bei der multiplen Sklerose unterscheidet man zwei große Formen: die schubförmige MS (remitting MS, RMS) – mit den beiden Unterformen RRMS (relapsing remitting multiple sclerosis/schubförmig-remittierende MS) und rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben) – und die primär progrediente MS (PPMS). Die meisten Patienten mit multipler Sklerose, etwa 90 Prozent, leiden an der schubförmigen Variante (RMS). Als Schub werden MS-Symptome bezeichnet, die über eine Dauer von 24 Stunden bestehen, dabei können sowohl neue Symptome auftreten, als auch bereits bekannte MS-Symptome sich verschlechtern. Die Schübe können sich ganz oder teilweise wieder zurückbilden, langfristig allerdings bleiben dauerhaft Schäden zurück. Häufig beginnt die schubförmige MS remittierend-schubförmig (RRMS) und geht nach etwa zehn Jahren bei der Hälfte der Patienten in einen sekundär progredienten Verlauf über.
Bei der primär progredienten MS verschlechtern sich die Symptome kontinuierlich, das bedeutet, die Behinderung nimmt konstant zu, ohne dass einzelne Schübe voneinander abzugrenzen sind. PPMS trifft etwa 10 Prozent aller MS-Patienten. Im Gegensatz zur remittierend schubförmigen MS entwickeln sich die neurologischen Symptome bei der PPMS eher schleichend. Die PPMS beginnt meist erst in einem Alter von 40 bis 50 Jahren und trifft Männer und Frauen mit gleicher Häufigkeit – bei der RMS erkranken Frauen im Schnitt dreimal häufiger als Männer. Auch beginnt die RMS meist früher im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Als einzig zugelassen Therapie steht PPMS-Patienten der CD20-Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®) zur Verfügung. Alle weiteren MS-Arzneimittel dürfen nur bei schubförmiger MS eingesetzt werden.