Aktuelles
7 min merken gemerkt Artikel drucken

Heilender Hype oder nüchterne Realität? Mit Ketamin gegen schwere Depressionen

Bild: hunna / Adobe Stock

Bin ich depressiv – oder schlägt mir gegenwärtig nur die Jahreszeit, der Stress auf die Stimmung, und ich leide an einem ‚Winter-Weihnachtsblues‘?“ Diese Frage quält manche Menschen, die vielleicht erstmalig ein Stimmungstief verspüren. Patienten mit schweren Depressionen – teilweise jahrelang andauernd und immer wiederkehrend – haben diese Ungewissheit, ob sie tatsächlich „krank“ sind, hinter sich gelassen. Für Einige erweisen sich sämtliche verfügbaren Therapien als wirkungslos. Und das sind nicht gerade wenige. Etwa jeder fünfte Patient, der unter einer schweren Depression leidet, ist therapieresistent. Ab wann spricht man von therapieresistenten Depressionen? Für die Eistufung „behandlungsrefraktär“ müssen mindestens zwei Medikationsversuche mit Antidepressiva erfolglos geblieben sein. 

Jahrelang lag der Fokus bei antidepressiven Wirkstoffen auf Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, stets mit dem Ziel, durch Arzneimittel deren Konzentrationen bei den depressiven Patienten zu erhöhen. Nur, dass bei Serotonin & Co. nicht die alleinige Wahrheit über Antidepressiva zu suchen ist, ist offensichtlich. Wie sonst ließe sich erklären, dass es Patienten gibt, bei denen dieser Ansatz wirkungslos bleibt? Ketamin lässt die Hoffnung als neue Behandlungsoption keimen.

Bedeutung von Ketamin zur Depressionslösung wächst

Ketamin als Antidepressivum? Das Arzneimittel ist eigentlich in einem anderen Therapiegebiet zuhause: in der Anästhesie. Doch Im Jahr 2000 offenbarte Ketamin ein bis dahin ungeahntes Potenzial. Bei schwer depressiven Patienten besserte Ketamin innerhalb weniger Stunden die depressiven Hauptsymptome. Auch knapp 20 Jahre später hat Ketamin keine Zulassung im Therapiegebiet der Depressionen. Doch die Ärzte setzen Ketamin mittlerweile gezielt bei schwer depressiven Patienten ein, allerdings nur als Reservemedikation. Ketamin erhalten ausschließlich Patienten mit therapieresistenten Depressionen, bei denen bisherige antidepressive Behandlungen versagt haben. In Deutschland gewinnt die Behandlung mit Ketamin stark an Bedeutung. Unter anderem ist die Charité Berlin ein wichtiges Behandlungszentrum für Ketamin.

Wann liegt eine schwere Depression vor?

Eine Depression charakterisiert sich durch Haupt- und Zusatzsymptome. 

Hauptsymptome äußern sich durch: 

  • gedrückte und depressive Stimmung, 
  • Interessensverlust und Freudlosigkeit, 
  • Antriebsmangel und eine erhöhte Ermüdbarkeit.  

Zusatzsymptome sind: 

  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, 
  • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, 
  • Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, 
  • negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, 
  • Suizidgedanken/-handlungen, 
  • Schlafstörungen, 
  • verminderter Appetit.  

Leidet der Patient über einen Zeitraum von zwei Wochen unter allen drei Hauptsymptomen und mindestens vier Zusatzsymptomen, liegt eine schwere Depression vor. Eine solche depressive Episode kann einmalig (monophasisch) auftreten. In anderen Fällen leiden die Patienten unter wiederkehrenden (rezidivierenden) Episoden, die Depression ist chronisch. Daneben können schwere depressive Phasen auch im Rahmen einer manisch-depressiven Erkrankung auftreten.

Wie sieht die Behandlung mit Ketamin aus?

Ein Ketamin-Behandlungszyklus dauert an der Charité zwei Wochen und umfasst insgesamt sechs Ketamin-Infusionen. Die Erkrankten erhalten Ketamin dreimal pro Woche als 40-minütige intravenöse Infusion. Der Behandlungszyklus ist damit abgeschlossen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass Ketamin nur eine einmalige Behandlungsoption darstellt. Bei Patienten, die gut auf Ketamin ansprechen, können auch von Zeit zu Zeit auffrischende Wiederholungstherapien durchgeführt werden. Eine antidepressive Therapie, die nur zwei Wochen dauert? Das klingt fantastisch – vergleicht man die wochen-, monate- oder teilweise gar jahrelang dauernden Therapiestrategien mit klassischen antidepressiven Wirkstoffen. Nur: Wie lange hält der antidepressive Effekt an? Sind die Patienten anschließend gesund und geheilt?

Ketamin heilt keine Depression

Ketamin wirkt zwar rasch antidepressiv – zumindest bei manchen Patienten. Eine Depression mit Ketamin endgültig zu heilen, das funktioniert jedoch leider nicht. Auch spricht längst nicht jeder Patient auf eine Ketamin-Therapie an. Laut Angaben der Charité Berlin profitiert nur rund ein Drittel aller mit Ketamin behandelten Patienten von dem Anästhetikum. Bei denjenigen jedoch, die „Ketamin“-sensitiv sind, wirkt Ketamin überraschend schnell: Bereits während der ersten Woche – also nach zwei bis drei Infusionen – spüren die Patienten einen positiven, antidepressiven Effekt. Insbesondere in den Vereinigten Staaten scheint die antidepressive Therapie mit Ketamin sehr etabliert. Doch auch in Deutschland wächst der Hype um Ketamin. Ist sie denn gerechtfertigt, die Ketamin-Euphorie? Auch wenn der Eindruck in der Bevölkerung rasch entstehen kann, verfolgt man teilweise Medienberichte mit reißerischen Schlagzeilen wie – „Innerhalb von zehn Minuten brachte Ketamin die Leichtigkeit“ oder „Ketamin als Antidepressivum? Partydroge soll Depressive heilen“ – Ketamin ist kein Allheilmittel und keine Wunderwaffe gegen die „dunklen Geister“ einer Depression. Ketamin hat Grenzen.

Ketamin nicht bei häufig wiederkehrenden Depressionen

Warum bekommt nicht jeder Patient Ketamin? Gibt es auch Nachteile für die Therapie? Nicht jeder Patient kommt für einen Therapieversuch mit Ketamin in Frage. Ein großer Nachteil bei Ketamin ist, dass man einen Teil der Patienten zwar schnell aus der Depression herausbekommt, aber gleichzeitig eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit besteht. Patienten, die unter häufig wiederkehrenden depressiven Episoden leiden, eignen sich folglich weniger gut für einen Therapieversuch mit Ketamin und die Ärzte üben bei diesen Patienten eher Zurückhaltung. Auch gibt es Patienten, die sich aufgrund anderer Grunderkrankungen nicht für eine Ketamin-Gabe eignen: Ketamin erhöht den Blutdruck und beschleunigt den Herzschlag. Hypertoniker oder Patienten mit Herzrhythmusstörungen scheiden für Ketamin aus. Kritisch sind auch Patienten, die in der Vergangenheit drogenabhängig waren oder ein erhöhtes Abhängigkeitsrisiko aufweisen.

Grenzen einer Ketamin-Therapie: Antidepressive Effekt nicht nachhaltig

Wie lange hält der depressionslösende Ketamin-Effekt an? Auf diese spannende Frage gibt es derzeit keine pauschale Antwort. Nachhaltig antidepressiv scheint die Wirkung von Ketamin allerdings nicht zu sein. Die Gabe von Ketamin erfolgt in Intervallen – praktisch wäre natürlich, die Applikation so zu erleichtern, dass auch eine Stand-by-Prophylaxe, einfach möglich ist. Diese Möglichkeit in Form eines Nasensprays wird untersucht, aktuell gibt es diese Option noch nicht für Ketamin-Patienten.

Ketamin punktet mit rascher Antidepression

Somit versuchen Ärzte derzeit wohl, Ketamin zu nutzen, um die Patienten rasch aus der Depression herauszubekommen. Der gute Zustand muss allerdings auf anderem Wege aufrechterhalten werden. Was sind solche anderen Wege? Psychotherapeutische Gespräche sind hier ein fester Stützpfeiler in der antidepressiven Therapie. Auch klassische Antidepressiva erhalten die Patienten. Ketamin ist stets eine Zusatztherapie zu einer bereits bestehenden Medikation der Patienten. Das bedeutet, die Patienten behalten ihre aktuellen antidepressiven Arzneimittel bei – während und auch nach den Ketamin-Gaben.

Akute Therapie bei Selbstmordpatienten?

Die rasche antidepressive Wirkung eröffnet Ketamin – neben der Behandlung therapieresistenter Depressionen – ein weiteres, spezielles Therapiegebiet für depressive Patienten. Wo ist eine sofort einsetzende antidepressive Wirkung erforderlich, ja, unter Umständen sogar lebenswichtig? Bei akut selbstmordgefährdeten Patienten. Aktuelle Daten deuten darauf hin, dass Ketamin besonders gut antisuizidal wirkt und als akut antisuizidales Arzneimittel somit therapeutisch wertvoll sein könnte.

Wie wirkt Ketamin antidepressiv?

Ein großes Mysterium ist noch immer: Wie gelingt Ketamin eine solch rasche, antidepressive Wirkung. Was vermittelt diese schnelle Wirksamkeit, die bei einem Teil der Patienten eintritt? 100-prozentig gelöst ist dieses Rätsel nicht. Die gegenwärtig überzeugendste Theorie geht davon aus, dass Ketamin über bestimmte Signalwege in der Zelle, schnell zur Aktivierung und Ausschüttung bestimmter Nervenwachstumsfaktoren führt, die letztlich für den fixen Wirkeintritt verantwortlich zeichnen.

Ketamin-Ambulanzen kritisch?

Die Charité setzt Ketamin ausschließlich stationär ein – was weniger dem Arzneimittel als solches geschuldet ist. Vielmehr sind die Patienten so schwer krank, dass eine ambulante Versorgung unmöglich ist. Anders läuft die Ketamin-Therapie in niedergelassenen Arztpraxen. Solche Ketamin-Ambulanzen entstehen ähnlich wie in den Vereinigten Staaten auch zunehmend in Deutschland. Ketamin ist zur Therapie bei Depressionen nicht offiziell zugelassen. Das heißt: Sollen Patienten das Arzneimittel bekommen, erfolgt dies im Rahmen von Studien, die aufwendig und insbesondere genehmigungspflichtig sind. In niedergelassenen ambulanten Praxen therapieren die Ärzte ihre depressiven Patienten allerdings im Rahmen sogenannter „individueller Heilversuche“. Der Vorteil: Diese sind, im Gegensatz zu Studien, nicht genehmigungspflichtig. Doch ist die ambulante Versorgung mit Ketamin offenbar lukrativ. Ein Grund könnte sein, dass aufgrund der hohen Rückfallrate, die Ketamin-Patienten „treu“ sind und die Therapie somit ein gewinnbringendes Geschäft ist.